Anforderungsprofil für Silicon-Valley-Journalisten

Ich weiß nicht, ob sich die Digital Natives unter Ihnen noch an den österreichischen Altkanzler Fred Sinowatz erinnern. Der schenkte uns in seiner Regierungserklärung vor 32 Jahren den köstlichen Satz: „Es ist alles sehr kompliziert.“ Ja, und ich bin ein Sinowatz im Silicon Valley.

Aus rechtlichen Gründen werden Artikel aus unserem Archiv zum Teil ohne Bilder angezeigt.

Was muss ein guter Journalist im Jahr 2015 können, will ich von Carlos Watson wissen, jenem Mann, der mit OZY das wohl beste Online-Magazin der USA gegründet hat. „Good question“, sagt der 45-Jährige. „Ein guter Journalist muss sich in seinem Leben mehrmals neu erfinden.“

Der Harvard- und Stanford-Absolvent gilt als Visionär. Schon einige Male war Carlos gezwungen, „to leave the beaten track in order to discover something new“. Er startete bei der Tageszeitung The Miami Herald, jobbte für die Unternehmensberatung McKinsey, war Wahlkämpfer für Bill Clinton und stieg bei CNN zum Anchorman auf. Bis der TV-Star vor knapp zwei Jahren beschloss, Entrepreneur in Googles Hometown Mountain View zu werden.

„Vor allem Printjournalisten fürchten sich vor Veränderungen“, sagt Carlos. „Aber ist es nicht großartig, dass wir heute Geschichten nicht nur mit Texten und Fotos erzählen können, sondern mit Videos, Blogs, Grafiken, Livetickern? Dass der Leser keine Briefe mehr zu schreiben braucht, sondern mit uns auf Twitter, Facebook und zahlreichen anderen Kanälen in einen direkten Dialog treten kann?“

Knapp 10.000 Journalisten aus der ganzen Welt bewerben sich jährlich bei OZY. Die Erfolgschancen eines Bewerbers: rein statistisch gesehen 0,25 Prozent.„Wir suchen keine Nachrichten-Nachbeter, die Agenturmeldungen abschreiben oder umschreiben“, sagt Carlos. „Wir suchen Menschen mit einem komplett neuen Denken, mit der Fähigkeit, frische Geschichten abseits des Einheitsbreis zu finden. Original reporting. Es reicht heute nicht mehr, als Schnellster eine Meldung rauszujagen. Denn dieselbe Nachricht bringen die anderen Millionen Websites im Netz ein paar Minuten später auch.“

Kreativität ist bei OZY das wichtigste Einstellungskriterium

.„We live in a culture of fears“, fährt Carlos fort. OZY möchte „fearless editors“, Redakteure, die sich etwas trauen, gerade beim Themensetting. Wer für ein Online-Magazin arbeitet, muss klarerweise auch „skilled in multimedia“ sein. Und: „We need people who are owners. Menschen, die wie Eigentümer arbeiten und denken. Nicht wie Angestellte.“

Ach ja, fast hätte ich vergessen zu erwähnen, dass die OZY-Chefs gerne auch ein fertiges Studium im Lebenslauf sehen.

Haben Non-Digital Natives bei OZY überhaupt eine Chance?

Nur zwei der rund 50 OZY-Editors sind über 60. Carlos: „Wir sind sehr froh über die Erfahrung, die sie mitbringen. Auch beim Alter der Crew ist die Mischung wichtig.“

Die 21-jährige Libby aus New York ist das jüngste Redaktionsmitglied. Um bei OZY einen Job zu bekommen, musste sie acht Vorstellungsgespräche meistern: Neben Carlos, Co-Founder Samir und Chefredakteur Jonathan checkten auch fünf Editors die fachlichen und menschlichen Qualitäten der Kandidatin im Vier-Augen-Gespräch.

Libby hat einen Harvard-Abschluss, 54.000 Dollar kostete sie das Studium pro Jahr. Als Chefredakteurin des Studentenmagazins The Harvard Crimson (www.thecrimson.com) machte sie mit guten Storys auf sich aufmerksam. „Mein Onkel und meine Tante haben mich immer darin bestärkt, Journalistin zu werden.“ Die beiden schreiben übrigens die Drehbücher für The Simpsons.

„There is so much content in the world“, philosophiert Libby. Es sollte immer in deinem Kopf sein, „that the readers have a reason to read your writing and not something else.“

Wetten, dass diese junge Frau eine große Karriere vor sich hat. Merken Sie sich den Namen Libby Coleman.

AD PERSONAM

Wolfgang Ainetter (hier auf Twitter) war Ressort-Leiter bei der Bild Zeitung, Chefredakteur der Gratis-Zeitung Heute und zuletzt Chefredakteur bei News – als längstdienender Chefredakteur nach dem Gründer. Diesen Sommer über bloggt Ainetter für The Gap über seine Hospitanz bei OZY im Silicon Valley.

WEITERLESEN:br />Erster Teil des Blogs – Die Bewerbung und die Vorgeschichte

Tag 1 in den Ozy Headquarter

Tag 2 Gastauftritt Kurt Kuch

Tag 3 Kein Wlan im Biergarten

Tag 4 Welcome To The Stone Age

Tag 5 Larry Page, Marissa Mayer und der Telefonzellenfabrikant

Newsletter abonnieren

Abonniere unseren Newsletter und erhalte alle zwei Wochen eine Zusammenfassung der neuesten Artikel, Ankündigungen, Gewinnspiele und vieles mehr ...