Printjournalisten sind wie Blackberry, Palm oder Nokia

Wir werden sie immer in liebevoller Erinnerung behalten: Stenotypisten, Videothekenbesitzer, Fotolaboranten und Printjournalisten. Sie sind die letzten ihrer Art.

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Ein IT-Manager im Silicon Valley würde einen Zeitungsredakteur wohl am ehesten mit einem angestaubten PalmPilot aus dem Jahr 1996 vergleichen – oder einem Nokia 9000 Communicator (1996), einem Blackberry 5810 (2002), einem Casio Zoomer (1993), möglicherweise einem P800 von Sony Ericsson (2002).

All diese Geräte stehen im „Computer History Museum“ von Mountain View. Wer die Schnelligkeit des digitalen Lebens und die Vergänglichkeit diverser Marken visuell erfassen will, braucht nur an diesen Ort zu kommen.

Unter den blechernen Exponaten sind auch das weltweit erste Diskettenlaufwerk (entwickelt von IBM vor 59 Jahren), der erste Mikroprozessor von Intel (1968), der kultige Apple-1, den Steve Jobs und Steve Wozniak 1976 in einer Garage bauten und Googles Prototyp eines Server-Rack (1999).

Am meisten interessiert mich aber die „mobile Revolution“, der das Museum einen eigenen Raum widmet. Immer häufiger nutzen die Leser journalistische Angebote auf Smartphones, beim US-Onlinemagazin OZY machen dies bereits gut 60 Prozent der User.

475 Milliarden Websites

„Das Smartphone“, sagt der von mir hoch geschätzte deutsche Mediaberater Thomas Koch, „ist unser mobiles Kommunikationsmedium Nummer eins, ist unsere ständige Pforte zu der globalen Welt und den inzwischen über 475 Milliarden Websites. Früher galt es als Desaster, seine Brieftasche zu verlieren. Wem heute sein Smartphone abhandenkommt, der verliert seinen Kalender, seine Fotos, seine Adressen, seine Bordkarten, ja fast seine gesamte Identität. Diese kleinen mobilen Computer befreien den Menschen vom Ort, an den er einst angebunden war, um zu arbeiten, einzukaufen und Medien zu nutzen.“

Ein Blick zurück in die Zukunft: „A handful of makers and academics began designing wearable computers to be used as part of their everyday lives in the early- to mid 1990s“, ist im Museum zu lesen. „Instead of focused, work-related duties, these devices were used for more personal tasks: email, messaging, music, note-taking, photography, and scheduling.“

Gleich mehrere Ausstellungsstücke sind Nokia-Produkte. Einige Modelle haben Kultstatus. Können Sie sich noch an die sogenannte Nokia-Banane „8110“ erinnern, die auch im Science-Fiction-Film „Matrix“ vorkam? Mein allererstes Handy, 1998.

Im Funkloch der Bedeutungslosigkeit

Das finnische Unternehmen ist ein Sinnbild für den Aufstieg und Fall einer Marke: 1898 als Gummistiefel-Firma gegründet. 1987: Präsentation des ersten Handtelefons. 1998 bis 2011: Weltmarktführer im Handymarkt (bis zu 40 Prozent Marktanteil).

Geblendet vom eigenen Erfolg, verschlief Nokia den Trend zu Smartphones. Die Konkurrenz begründete eine neue Ära: „Erfindung des Jahres 2007“ wurde das iPhone vom Nachrichtenmagazin „Time“ genannt. Bis heute hat Apple mehr als 700 Millionen Stück davon verkauft. Und Nokia? Der langjährige Weltmarktführer verschwand im Funkloch der Bedeutungslosigkeit.

Das digitale Zeitalter stellt alles in Frage. Marktführer werden oft innerhalb von wenigen Monaten zu Sanierungsfällen – und Startup-Nobodys zu Multimillionären.

Viele Zeitungen erleiden gerade ein Nokia-Schicksal

„Print stirbt derzeit einen langsamen qualvollen Tod“, sagt Thomas Koch. „Die Journalisten sehen nicht, wie die Digitalisierung ihre Aufgabe verändert. Sie wollen partout nicht einsehen, dass ihre Leser inzwischen ebenso gut googeln können wie sie selbst, dass aus vielen ihrer Leser selbst Blogger geworden sind.“

Mich überrascht diese apathische Reaktionslosigkeit in einer Zeit, die Langsamkeit, Austauschbarkeit und Beliebigkeit nicht verzeiht. Warum verzichten – im Jahr 2015 – soviele Websites auf „Responsive Webdesign“? (Siehe Blog-Beitrag „Welcome to the Stone Age") Wieso haben fast alle Zeitungen und Online-Portale täglich dieselben Aufmachergeschichten? Weshalb checken es einige Anbieter noch immer nicht, dass sich die Leser nicht länger mit Gaga-Storys verarschen lassen wollen? Beispiel: „Traurig. Qualvolles Syndrom: Frau muss sich täglich 20 mal übergeben.“ – Und die Konsumenten dieses Beitrags garantiert auch.

Als ich das „Computer History Museum“ verlasse, habe ich meine erste Gründer-Idee im Silicon Valley. Wie wäre es mit einem „Newspaper History Museum“?

Schlusspointe: Am Abend erzählt mir in San Francisco ein Taxifahrer, dass einer seiner Freunde palettenweise Gratiszeitungen aus den zahlreichen Boxen in der City hole. Der Kumpel sei Malermeister und benötige das Papier – als Bodenschutz beim Tapezieren.

AD PERSONAM

Wolfgang Ainetter (hier auf Twitter) war Ressort-Leiter bei der Bild Zeitung, Chefredakteur der Gratis-Zeitung Heute und zuletzt Chefredakteur bei News – als längstdienender Chefredakteur nach dem Gründer. Diesen Sommer über bloggt Ainetter für The Gap über seine Hospitanz bei OZY im Silicon Valley.

WEITERLESEN:br />Erster Teil des Blogs – Die Bewerbung und die Vorgeschichte

Tag 1 in den Ozy Headquarter

Tag 2 Gastauftritt Kurt Kuch

Tag 3 Kein Wlan im Biergarten

Tag 4 Welcome To The Stone Age

Tag 5 Larry Page, Marissa Mayer und der Telefonzellenfabrikant

Tag 6 Anforderungsprofil für Silicon-Valley-Journalisten

Tag 7 Kann man mit Online-Journalismus Geld verdienen, Mister OZY?

Tag 8 Fingernägel, Nasenrotz und andere Erfolgsgeheimnisse

Tag 9 Friseure sind die besseren Schreiber

Tag 10 Nachts im Silicon Valley

Tag 11 The same procedure as every day and every week.

Tag 12 OZY = Apple = CNN = eBay = Google = Time Warner = White House

Tag 13 Redakteure Gates, Bush, Blair, Rice und Shriver

Tag 14 Gute Fotos sind die Feindbilder der Controller

Tag 15 Sind die Zeitungsverlage die „Chain Gangs“ der Google-Diktatur?

Tag 16 „The Voice“ und die Trommelfellkiller-Bosse

Tag 17 Ein Alien bei Starbucks und 7 weitere Short Stories aus dem Silicon Valley

Tag 18 König OZY, Steve Jobs und die Träume

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