Clemens Marschall und Klaus Pichler haben sich in ihrem neuen (Foto-)Buchprojekt den verschwindenden Spelunken und Tschocherln Wiens angenommen und sorgen damit auch international für Aufsehen. Hier findet ihr einige Einblicke in das großartige Projekt "Golden Days Before They End" und erklärende Worte des Fotografen Pichler.
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Wenn wir unsere Lieblingsfotografen aus Österreich nominieren müssten, würde Klaus Pichler ganz bestimmt einen der vorderen Plätze einnehmen. Seine Themenwahl und seine unglaublich detailverliebte Arbeit sorgt dafür, dass man sich sicher sein kann, etwas Solides in der Hand zu haben, wann immer man eines seiner Fotobücher in selbige nimmt. Ab und zu flehen wir ihn an, auch für uns zu fotografieren – so lockte er erst kürzlich Tomas Zierhofer-Kin vor seine Linse. Auch MusikerInnen inszeniert Pichler fantasievoll aber unprätenziös: hier zum Beispiel Christian Fuchs (Black Palms Orchestra). Über seine beiden Fotobücher "Just the two of us" und "Fürs Leben gezeichnet" haben wir bereits berichtet. Für "Golden Days Before They End" zogen Pichler und der Journalist Clemens Marschall um die Häuser und dokumentierten über einen langen Zeitraum das Verschwinden von typisch Wiener Unterwelts-Beisln. Die dabei entstandenen Bilder sind nicht nur faszinierende Kompositionen, die bis ins kleinste Detail geplant scheinen (obwohl sie das nicht sind), sondern auch zeitgeschichtliche Dokumente, die ein Milieu abbilden, das es vielleicht bald nicht mehr gibt.
Im Text zu eurem neuen Fotoband "Golden Days Before They End" betonen Clemens Marschall und du, eben nicht an den Beisln vorbeigegangen zu sein, sondern hinein. Man versteht sofort, wie das gemeint ist: Diese erste Hemmung, die Schwelle als Nicht-Dazugehörende zu übertreten. Wie hat sich das beim ersten Mal angefühlt und wie hat sich dieses Gefühl im Lauf der Zeit verändert?
Clemens war schon lange, bevor wir mit dem Projekt begonnen haben, in den Beisln unterwegs und hat mich deshalb vorbereitet, was mich erwarten wird, außerdem habe ich bei meinen Buchprojekt über Knasttätowierungen auch immer wieder in solchen Lokalen nach Teilnehmern gesucht. Dennoch war es zu Beginn des Projekts seltsam, die Beisln mit dem Plan zu betreten, dort Fotos zu machen und ich war sehr vorsichtig und schüchtern. Man weiß im Vorfeld ja nie, wie die Leute so einem Unterfangen gegenüberstehen, also ob man sofort rausgeschmissen wird oder ob man erwünscht ist. Mit der Zeit haben wir aber gemerkt, dass die Leute – sowohl Wirte als auch Gäste – sehr genau wissen, dass diese Generation von Lokalen gerade den Bach runtergeht und dass sie froh sind, wenn sich jemand darum kümmert, das zu dokumentieren und vielleicht auch ein Bewusstsein zu schaffen, dass da gerade ein Stück Wien verschwindet. Dadurch bekamen wir viel Unterstützung und wurden in den meisten Lokalen wirklich freundlich empfangen, was natürlich auch unser Grundgefühl verändert hat. Außerdem haben wir recht schnell gemerkt, dass die Stammgäste in den Lokalen ein sehr enges soziales Gefüge haben, dass also jeder jeden kennt und wir deshalb nicht fürchten müssen, dass uns etwas passiert, weil es eine gewisse soziale Kontrolle gibt. Zu Beginn des Projekts waren wir jedenfalls definitiv nervöser, wenn wir ein Lokal zum ersten Mal betreten haben, das hat sich aber recht schnell gelegt.
Clemens hat die WirtInnen und KellnerInnen in den Kneipen interviewt und du die Fotos von ihnen gemacht. Wie schnell wird mal als Neulinge von den anderen Gästen und dem Wirt akzeptiert? Habt ihr auch mal mitdiskutiert oder euch aus dem Mikrokosmos völlig rausgehalten?
Spätestens beim dritten Besuch gehört man irgendwie dazu – wenn man in den Beisln sein Herz auf der Zunge trägt, auf die Leute zugeht und mit ihnen kommuniziert und weiß, wie man sich benehmen muss, dann ist man sehr schnell akzeptiert und aufgenommen. Uns war wichtig, dass wir im Umgang mit den Gästen und auch in der Ausrichtung des gesamten Projekts nicht werten, sondern neutral bleiben, aber gleichzeitig dazu stehen, wer wir sind und was wir machen. Es war nicht unsere Aufgabe, zu diskutieren und den Leuten unsere Meinung aufzudrücken, sondern im Gegenteil möglichst viel an Informationen und Befindlichkeiten aufzusaugen, um das Projekt mit einem reflektierten Zugang machen zu können. Natürlich gab es Situationen, in denen wir gemerkt haben, dass die Leute an unserer Meinung sehr wohl interessiert sind – gerade bei politischen Themen – und bei diesen erwünschten Diskussionen haben wir gerne mitgemacht. Es ist aber ein Unterschied, ob man eingeladen wird, mitzureden, oder ob man sich aufdrängt – und gerade bei dieser Frage muss man ein Feingefühl entwicklen, wo die Grenzen liegen, um nicht ungut aufzufallen. Die Leute in den Beisln sind vom Umgang her alle sehr ‚gerade‘ und direkt, deswegen weiss man recht schnell, woran man ist und kann sich gleichzeitig sicher sein, dass es eine ganz schlechte Idee ist, sich zu verstellen. Bei mir war es zum Beispiel so, dass ich generell sehr wenig Alkohol trinke und mich deshalb bewusst entschieden habe, in den Beisln nur Mineralwasser zu trinken – und das habe ich auch ganz bewusst kommuniziert, weil ich gewusst habe, dass ich den Respekt der Leute dafür viel eher bekomme, wenn ich dazu stehe.
Über Golden Days Before They End wird auch international berichtet (cf. Slate), ist es das erste deiner Buchprojekte, das diese Art von medialer Aufmerksamkeit bekommt?
Nein, ich hatte bei fast allen Projekten das Glück, dass verschiedene Medien darauf angesprungen sind. Ich denke, das liegt daran, dass ich thematisch arbeite und irgendein Phänomen, ein Ding oder eine soziale Gruppe die Basis ist, auf die ich dann eine fotografische Interpretation aufbaue. Medien sind ja auch immer thematisch interessiert, deshalb hat sich das bisher recht gut ergänzt. Ich finde das immer sehr amüsant, weil die Grundideen fast aller Projekte spontane Eingebungen waren, die auf der Couch, beim Einschlafen oder sonstwo gekommen sind. Wenn ich das dazugehörige Projekt dann abgeschlossen habe und es in den Medien präsent ist, dann finde ich es witzig, welche Reise eine so kleine und seltsame Grundidee angetreten hat und wie aus einem kleinen Funken etwas Großes geworden ist.
Auf einem Bild sieht man einen Mann, der am Boden einen Spagat macht. Es wirkt ein wenig so, also ob eure Anwesenheit erst die "Show" dort in Gang bringen würde. Inwiefern merkt man, dass sich die regelmäßigen Besucher euch gegenüber anders zeigen, als sie es vielleicht ohne eure Anwesenheit tun würden?
Auf vielen Fotos sieht man die Gäste in Situationen, die ich als ‚Inszenierungen‘ bezeichnen würde – allerdings von den Gästen selbst inszeniert und ohne mein Zutun entstanden. Zu Beginn des Projekts habe ich mir immer, wenn es zu solchen Situationen kam, gedacht, dass ich eigentlich lieber hätte, wenn die Leute natürlich bleiben würden – ich wollte nicht, dass man auf den Fotos Leute sieht, die wissen, dass sie gerade fotografiert werden. Ich habe aber relativ schnell gemerkt, dass gerade das der natürliche Umgang mit einer Kamera ist und dass dabei so eine Art ‚Improtheater‘ gespielt wird. Außerdem wurde mir immer klarer, dass es sich dabei um Posen und Inszenierungen handelt, die genau so wahrscheinlich schon 10 Mal davor für die Handykameras der Gäste inszeniert wurden und jetzt eben ich in das Vergnügen komme, dass das vor meiner Kamera passiert. Ich glaube also nicht, dass unsere Anwesenheit die Leute dort aufgestachelt hat, besonders verrückt zu sein, sondern dass ein Großteil der Szenen genau so passiert wäre – entweder vor ihren eigenen Kameras oder auch deshalb, weil die Stimmung gerade danach war – es gab ja viele Abende voller Euphorie und Schmäh. Der Moment, in dem mir das klar wurde, war auch ein Moment, der bestimmend für die gesamte Art und Weise, wie ich fotografiere, wurde. Ab da habe ich den Leuten bewusst die Möglichkeit gegeben, vor meiner Kamera so zu agieren, wie sie gerade wollten und es kamen Situationen wie die mit dem Mann, der den Spagat macht, heraus. Er ist übrigens für seinen Spagat legendär und es wurde mir in drei Beisln in der Gegend von ihm erzählt, bis ich ihn dann selbst mal getroffen habe.
Café Alzheimer – ein Name, den man heute bei der Neueröffnung vermutlich überdenken würde. Was waren die Favoriten unter den Lokalnamen und inwiefern passen diese zur dahinscheidenden Beislkultur?
Ich glaube, wenn man ein Beisl übernehmen und im gleichen Sinn fortführen würde, dann würde der Name nach wie vor perfekt passen – viele Lokalnamen sind ja ironische Seitenhiebe voller Wiener Schmäh auf das, was im Lokal passiert – ‚Kopfwehinsel‘, ‚Hühnerstall‘, ‚New Family‘, ‚Cafe Chaos‘ oder eben ‚Cafe Alzheimer‘. Das passt also perfekt zur Befindlichkeit der Lokale und zum Selbstverständnis der Wirte und Gäste. Das schlägt sich auch in den Sprüchen, die in den Lokalen aufgehängt sind, nieder – dieser Galgenhumor und Fatalismus, mit dem die Tücken das Alltagslebens ironisiert werden. Da gab es zum Beispiel Sprüche wie ‚Das Leben ist am schwersten, drei Tage vor dem Ersten‘, ‚Bist du voll, so leg dich nieder, nach dem Schlafen saufe wieder!‘, ‚keiner sieht, wenn ich Durst habe, aber jeder sieht, wenn ich besoffen bin‘ oder ‚Sauf dich reich! 1 Jägermeister und 1 Brieflos nur € 2,50‘. Das ist also alles eine stimmige Einheit, die von den Gästen auch kultiviert wird.
Habt ihr den Fotografierten das Ergebnis gezeigt, wie waren die Reaktionen?
Für Clemens und mich war die Tatsache, dass alle Fotografierten ihre Fotos sehen und auch ausgedruckt bekommen, von Anfang an ganz wichtig. Das einerseits als Dankeschön für die Teilnahme und andererseits auch, um Fotos, die den Porträtierten nicht passen, von Anfang an auszuscheiden (das war aber nur sehr selten der Fall).
Ich habe auch viele Fotos von den Gästen gemacht, die nicht besonders ‚fotografisch‘ sind, sondern eher Gruppenfotos und Porträts, damit die Gäste möglichst viele Fotos bekommen. Da haben wir also von Anfang an mit offenen Karten gespielt. Nach etwa zwei Jahren Laufzeit habe ich mal die Fotos, die mir damals für das Buch passend erschienen sind, auf meinen Laptop kopiert und habe die Auswahl in fünf Lokalen, in deren Gesellschaft ich schon ein bisschen hineingewachsen war, den Gästen und Wirten gezeigt. Ich war davor sehr nervös, weil ich nicht wusste, wie die Reaktionen auf so eine kondensierte Auswahl sein würden – ob ich aus dem Lokal geworfen werden würde oder ob ihnen die Fotos und der Blick auf Lokale und Gäste gefallen würden. Zu meiner Erleichterung haben die Leute in den Lokalen die Fotos begeistert aufgenommen und sich sehr amüsiert, weil sie eben genau wussten, dass dieser Blick die Lokale ungeschönt beschreibt. ‚Ja, so geht’s eben zu bei uns‘ – dieser Satz einer Wirtin war eine Anmerkung, die für mich den Nagel auf den Kopf trifft, weil daraus auch ein gewisser Stolz mitschwingt, Teil dieser Welt zu sein und sehr wohl zu wissen, wie man nach außen wirkt.
Wieso interessiert sich gerade ein Schweizer Verlag, die Edition Patrick Frey, dafür, so ein Buch rauszubringen?
Clemens Marschall und ich haben bewusst nach einen Verlag im Ausland gesucht, bei dem wir das Buch veröffentlichen, weil wir fanden, dass die Wertschätzung für das Thema und die Fotos bei einem Verlag aus dem Ausland wahrscheinlich größer sein würde, als wenn das Thema rein ‚österreichisch‘ betrachtet werden würde. Wir sehen die Wiener Beisln ja als österreichischen Beitrag einer Trinkerkultur, die international ebenso existiert und für die es in anderen westlichen Kulturkreisen Entsprechungen gibt, egal ob man sie Kneipen, Inns, Pulquerias, Kroegs, Volkscafes oder sonstwie nennt. Deshalb wollten wir das bewusst in den internationalen Raum verlagern und auch eine englische Version des Buches machen. Die Edition Patrick Frey war der perfekte Partner für unser Vorhaben – ein Kunstbuchverlag, bei dem jedes einzelne Buch eine eigene, liebevoll designete Welt darstellt; Und wir sind sehr glücklich damit, wie die Zusammenarbeit verlaufen ist und wie das fertige Buch geworden ist.
"Golden Days Before They End" von Klaus Pichler und Clemens Marschall ist bereits in der Edition Patrick Frey erschienen.