Zuerst waren alle vom Kuss-Video begeistert, dann fühlten sich alle verraten, weil es ja nur Werbung war, als hätte sich der andere nach dem ersten Kuss nie wieder gemeldet. Beides ist nicht richtig.
Ja, auch ich habe das so genannte „First Kiss Video“ der georgisch-amerikanischen Filmemacherin Tatia Pilieva geteilt. Ich fand es auf The Good Men Project, einer Website über den modernen Mann, die ich regelmäßig lese. Ein Redakteur hatte es dort relativ unkommentiert veröffentlicht. Die Caption sagte ohnehin alles: 20 strangers kiss for the first time.
Anfangs fanden das die meisten noch gut. Schmusen ist ja sowieso schon leiwand und dann auch noch mit Fremden – was will man denn noch? Die britische Tageszeitung Independent ging sogar so weit zu sagen, das Video hätte eine heilsame Wirkung auf die Stimmung seiner Betrachter.
Auch mich machte das Filmchen auf unbenennbare Art und Weise ein bisschen froh. Zwar vermutete ich, dass irgendetwas daran faul ist, da die Menschen darin alle so schön, dünn und glücklich sind, dass es mir zu absichtlich vorkam. Aber man muss ja nicht immer sofort alles wissen wollen.
Du bist naiv
Kurze Zeit nachdem ich den Link auf Facebook und Twitter geteilt hatte vollbrachte eine Reihe von Menschen die detektivische Meisterleistung, herauszufinden, dass es sich bei dem Film um eine Marketingkampagne des amerikanischen Modelabels Wren handelte.
Du bist naiv, wenn du das gut findest, sagen sie. Das ist keine Kunst, das ist „nur“ Werbung, sagen sie. Du lässt dich von Konzernen manipulieren, bist ein Opfer des Konsumwahns und kennst keinen Unterschied mehr zwischen Wahrheit und Lüge. Journalisten sind nutzlos, denn sie haben uns nicht auf das verborgene Motiv hinter diesem Video hingewiesen, das sie selbstverständlich hätten sofort erkennen und laut ausrufen müssen, auch wenn uns das selbst nicht gelungen ist. Die moralische Entrüstung, die Überheblichkeit und der Spott kennen keine Grenzen.
Eh logisch, es ist nicht angenehm, wenn man getäuscht wird. Ist es aber vielleicht dennoch möglich anderen zu gestatten an etwas Gefallen zu finden, mit dem man selbst nicht ganz einverstanden ist?
A Shocker
Okay, das Video ist kein unabhängiges Kunstprojekt, es ist Werbung. Die Menschen darin sind Schauspieler, Models und Musiker und keine in der Fußgängerzone eingefangenen Zufallstestpersonen, die sich in eine spontane Schmuse-Session verwickeln ließen. What a shock. Vielleicht – und das ist eine unbewiesene Vermutung – kannten sie sich sogar und die ganze Sache ist ein noch viel größerer Fake als angenommen.
Aber: Gute Werbung, die funktioniert ist eine Kunst in sich, auch wenn sie dazu dient etwas zu verkaufen. Außerdem ist nicht alles was irgendwem Geld bringt automatisch Satan.
Die Firma, die hinter dieser Kampagne steckt ist übrigens kein böser Großkonzern, sondern ein gar nicht so großes Modelabel in L.A., das sich nach einer Figur aus einem Charles Dickens Roman benannt hat.
Was ist mit all den anderen Werbespots, die gute Stimmung verbreiten, obwohl sie einem globalen Riesenkonzern dienen, wie etwa die Coca Cola Weihnachtsspots oder die „Make Love Not War“ Kampagne von AXE? Keiner wird euch jemals glauben, dass ihr das Salto-Kind aus der Ovomaltine-Werbung scheiße findet.
Vielleicht ist dieses Video, das anfangs so viele Leute erfreut hat, die ganze Empörung und die Demonstrationen moralischer Überlegenheit am Ende nicht wert.
Auf jeden Fall aber finde ich Menschen lästig, die ihre zweifellos wichtige und nützliche Fähigkeit zum kritischen Denken wie einen Orden auf der Brust tragen, obwohl sie in Wahrheit nur enttäuschte Romantiker sind, die gerne einmal mit Fremden schmusen würden. Gehet einfach hin und mehret euch und verderbet euren Mitmenschen nicht weiter den Tag.
Fürs Protokoll: Dieses Video ist Teil einer Marketingkampagne. Unabhängig davon dürft ihr es aber mögen oder auch hassen. Ja, es darf euch sogar völlig wurscht sein.
Zum Nachklicken:
First Kiss: https://www.youtube.com/watch?v=IpbDHxCV29A
Die Autorin auf Twitter: @_schwindelfrei_