Zwanzig Jahre ist "Before Sunrise" alt. Hübsch anzusehen ist die Liebesgeschichte zwischen Ethan Hawke und Julie Delpy ja, der Film erzählt aber auch einige Unwahrheiten über Wien.
Wege zum Glück
Rund 17 Stunden verbringen Jesse und Celine in Wien. Die Wege zum Glück, die sie dabei zurücklegen, nehmen laut Google Maps allein schon 3 Stunden und 40 Minuten Fahrzeit mit dem Auto ein. Mit den Bims und U-Bahnen, die sie im Film kurz vor Sommerbeginn benützen, würden sie dafür wohl ein wenig länger brauchen. Die Strecke zum Friedhof der Namenlosen schlägt dabei schwer ins Gewicht. Abgesehen davon, dass man 1995 noch ein paar Jahre entfernt von Nacht-U-Bahnen war. Wir sind uns sicher, dass sich das niemals ausgehen kann.
Spots of Love
Jeder der schon einmal einen City Trip gemacht hat, weiß wie viel man innerhalb eines Tages ohne einer Großpackung Blasenpflaster schaffen kann. So sehr auf Wolke 7 kann man gar nicht schweben, um einfach so und scheinbar schwerelos von einem Ort zum nächsten zu gleiten.
Die Stationen ihrer Liebe sind: 1) Westbahnhof
2) Zollamtssteg
3) Schottentor
4) Alt und Neu Plattenladen
5) Kunst- und Naturhistorisches Museum
6) Friedhof der Namenlosen
7) Prater, Riesenrad
8) Kleines Cafe im Ersten
9) Maria am Gestade
10) Donaukanal, Salztorbrücke
11) Arena Wien
12) Mölkersteig
13) Spittelberg
14) Cafe Sperl
15) Albertina
16) Club Roxy
17) Wiese hinterm Palais Schwarzenberg
18) Albertina
19) Westbahnhof Wer's glaubt.
Am Weg nach Wien
In die schmuddeligen und von längst vergangenen Tagen der Raucherabteile gezeichneten Plüschsessel der ÖBB gedrückt, sind Jesse und Celine im Zug am Weg nach Wien West. Kurz vor der Endstation ziehen Felder und grüne, saftige Wiesen an ihnen vorbei. Fällt etwas schwer zu glauben, wenn man bedenkt, dass sich der Westbahnhof nur ein wenig außerhalb des Wiener Gürtels befindet und danach der liebliche Wienerwald kommt. Vollkommen unrealistisch also, dieser Film.
Tex Rubinowitz
Der Wiener als ur-eigene Spezies tritt in "Before Sunrise" einige Male recht Klischee-beladen auf. Die Grantler im Zug, die Intellektuellen im alten Wiener Kaffeehaus oder auch eine verlorene Künstlerseele in Schlips und Krawatte, der in überbreitem Wiener Dialekt die zwei Turteltauben vom Besuch seines Theaterstück zu überzeugen versucht, in dem er eine Kuh verkörpern wird. Letztere Rolle füllt Bachmann-Preisträger Tex Rubinowitz eigentlich eh ganz überzeugend aus. Was dabei nicht so überzeugend ist, ist dass der deutsche Synchronsprecher ihm ein breites Wienerisch in den Mund legt, das der in Hannover geborene Herr Rubinowitz definitiv so nicht spricht.
Seurat Ausstellung im Kunsthaus Wien
Ein Stückchen Heimat findet Celine in diesem Plakat einer Seurat-Ausstellung im Kunsthaus Wien. Finden wir eh toll – stattgefunden hat im Jahr 1995 aber keine Ausstellung dieses französischen Pointillisten. Hollywood eben.
Dichter am Donaukanal
Eine neue scheinbare unbeschreibbare Dimension von Wiener Romantik tut sich für beide am Wiener Donaukanal auf – sie treffen einen obdachlosen Dichter in Hemd und Sakko, der ihnen innherhalb kürzester Zeit ein hübsches Gedichtchen über die Liebe und das Leben schreibt. In Wien kauert die Kunst wohl an jeder schmutzigen Ecke. Glaubt Hollywood jedenfalls. Wir wissen, dass das (leider) nicht so ist. Obdachlose hat es vor zwanzig Jahren am Donaukanal sicher gegeben, aber dass sie spontan Gedichte über Milkshakes und andere wichtige Themen des Lebens schreiben – srsly?
Bauchtänzerin am Spittelberg
Ein bisschen Orient mitten im Siebten. Das gab es damals wohl und gibt es auch heute noch, etwa Teppichhändler und boboeske Geschäfte, die Hummus und Baba Ganoush an ihr multikulturelles Klientel verkaufen. Von Bauchtänzerinnen, die den Spittelberg zu einem Ort aus 1001 Nacht vor dem Sonnenaufgang machen, hat man bislang nicht gehört. Go home, Before Sunrise, you're drunk.
Im Kaffeehaus
Wenn man einen klugen Film dreht, der in Wien spielt, darf ein Drehort auf gar keinen Fall fehlen – das Alt-Wiener Kaffeehaus. Ein kleiner Schwenk durch seine Besucher verrät im Film scheinbar alles über Wien und gleichzeitig auch gar nichts – in breitem Wienerisch erzählt einer seinem Hawara von seiner Liebe zu Dubrovnik, zwei bärtige Intellektuelle mit runden Brillengläsern führen eine angeregtes Gespräch über Schiele und Otto Wagner und eine Gruppe Twentysomethings redet übers Schiffen. Nicht nur, dass hier das ganze Spektrum der Wienerischen Eigenheiten strapaziert wird, es scheint auch schwer vorstellbar, dass zwie Touristen am Ende ihrer Wien-Tour, sprich mitten in der Nacht, einen der wenigen Plätze finden, der zu dieser Uhrzeit vor zwanzig Jahren offen hatte und noch dazu Kaffee und Kuchen serviert. Dass es sich hier um die "Gräfin am Naschmarkt" handelt, ist ausgeschlossen.
20 Jahre nach "Before Sunrise" hat alles, was Jesse und Celine im Film so an Lebensweisheiten zerkauen und verdauen, noch immer genauso viel beruhigende Weisheit wie damals bei seiner Premiere im Jahr 1995.
Kaum ein Film hat Wien so üppig inszeniert wie "Before Sunrise". Kaum ein Film gilt als Pflichtprogramm für alle, die zum Studieren nach Wien kommen. Und während sich Tom Cruise nur kurz auf Verbrecherjagd von den Dächern Wien stürzt, stürzen sich Ethan Hawke und Julie Delpy einen ganzen Film lang tief ins ins Wiener Nachtleben und in die Topografie der Gefühle. Es steckt viel sujektive Wahrheit in dem steckt, was die beiden Protagonisten da so an Dawson’s Creek’scher Gefühlsduselei von sich geben. Worüber sich aber streiten lässt, sind all die verrückten Dinge, die beide in nur wenigen Stunden erleben; am 16. Juni 1994 – übrigens in Anlehnung an Ulysses von James Joyce.
Auf den Spuren des Sonnenaufgangs
Wien ist schön, Ethan Hawke und Julie Delpy sind schön. Touristen fliegen pärchenweise nach Wien, um auf den Liebesspuren von Jesse und Celien zu wandeln. Im Internet gibt es eine gute Handvoll Karten auf denen sämtliche Flirt-, Tanz-, und Sexszenen akkurat verzeichnet sind. Das Kino unter Sternen bot im Jahr 2010 anlässlich ihres Screenings von "Before Sunrise"-Touren für die Besucher an. Nie wieder wird der romantisch veranlagte Wiener auf der Terrasse der Wiener Albertina stehen können, ohne sich vorzustellen, er hätte gerade einen Tag wie im Film verbracht. Oder im Roxy einfach so tanzen können. Naja, fast.
Mit der Distanz von zwei Jahrzehnten, ist es auch mal an der Zeit diesen Film nicht nur wegen seiner Klugheit zu würdigen, sondern ein bisschen Filmdetektiv zu spielen und Fragen zu beantworten wie: "Geht sich das alles in einer Nacht überhaupt aus?", "Wie soll das ohne Nacht-U-Bahn funktionieren?", "Typisch Hollywood, oder?" oder "Wo leben die obdachlosen Poeten vom Donaukanal jetzt?". Zeit für ein bisschen Suderei also. Weil Wien ja irgendwie Wien bleiben muss.
Den Film kann man übrigens hier semilegal streamen. Spitzfindigere Filmdetektive mögen uns bitte erhellen, wo wir noch im Dunkeln tappen, und diese Liste erweitern. Am besten in den Kommentaren. Danke.