Festivaltagebuch Ethnocineca 2022, Tag 1: Eröffnung mit Tauben in Beirut

Zur Eröffnung der 16. Ausgabe des ethnografischen Dokumentar­film­festivals sprach der Sozial­anthropologe Arnd Schneider über »Entangled Realities« und die Rolle des Dokumentar­films im Kontext von Kolonialismus und Restitution. Mit »Kash Kash – Without Feathers We Can’t Live« sorgte ein spannendes Städte­porträt Beiruts für den filmischen Auftakt.

© »Kash Kash – Without Feathers We Can’t Live« von Lea Najjar

Donnerstag, 12. Mai

Gegen 18 Uhr trudeln die ersten Gäst*innen im Votiv Kino ein. Um der Hitze auf Wiens Straßen zu entfliehen, kommen sie gerne in die (noch) kühlen Räumlich­keiten des Votiv Kinos. Bevor es mit dem Eröffnungsvortrag »Entangled Restitutions« losgeht, tauscht man sich bei Limonade oder Spritzer an der Kinobar über die neuesten innen­politischen Eskapaden, das heiße Wetter und – wer hätte es gedacht – die Kulturbranche aus. Die Pandemie ist kaum mehr Thema. Nur vereinzelte Masken­träger*innen erinnern daran, dass Corona nach wie vor existiert. Dabei findet das Dokumentar­filmfestival Ethnocineca dieses Jahr erstmals seit Pandemie­beginn wieder vor Ort statt.

Endlich wieder Festivalstimmung

Unter dem Motto »Entangled Realities« (zu Deutsch: verflochtene Realitäten) bespielt die Ethnocineca heuer zum 16. Mal die Säle des Votivkinos und des De France mit zeit­genössischen ethno­­grafischen Dokumentationen. Nachdem die letzten zwei Ausgaben und sogar das 15-jährige Jubiläum des Filmfestivals in den virtuellen Raum verlegt werden mussten, ist die Vorfreude, endlich wieder in physischer Gemeinschaft feiern zu können, deutlich spürbar.

Der Gemeinschafts­gedanke wird auch von Moderatorin Rita Isiba hochgehalten. »A very warm welcome to you all, ladies, gentlemen and non-binaries«, begrüßt sie die Anwesenden. Die Entscheidung, auch nicht-binäre Personen direkt anzusprechen, schafft eine Atmosphäre der gegen­seitigen Wert­schätzung, die über den gesamten Abend anhält. Isiba regt zum Austausch an. Die Ethnocineca biete die Möglichkeit, sich innerhalb der ethno­grafischen Filmszene zu vernetzen.

»Can film restitute?«

Obwohl einige Sitze leer bleiben, ist die Stimmung im Publikum gespannt, als Arnd Schneider die Bühne betritt. Mit seiner Keynote Lecture stimmt der Osloer Universitäts­professor und Sozial­anthropologe auf den diesjährigen Festival­schwerpunkt »Entangled Realities« ein. Noch bevor er in die Materie eintaucht, spricht er seinen vollen Respekt gegenüber der Geschichte des sogenannten globalen Südens, dessen Kolonialisierung und den Nachfahr*innen der Leid­tragenden aus. Bei manchen mag so etwas zur lieblosen Floskel verkommen, Schneider merkt man an, dass es ihm ein echtes Bedürfnis ist, das zu sagen.

Anhand ausgewählter Experimental-Dokumentarfilme behandelt sein Vortrag Formen der kritischen Auseinander­setzung mit Kunst­objekten nicht-westlichen Ursprungs, die mehrheitlich in westlichen Kolonial­museen verwahrt werden. Welche Rolle kommt dem Film und im speziellen dem Dokumentar­film dabei zu? Bietet Film die Möglichkeit zu einer Form von Entschädigung? »What has been stolen, must be returned«, fordert Arnd Schneider nüchtern, aber bestimmt.

Das Ethnocineca-Team freut sich über die Festivaleröffnung. (Foto: Helena Peter)

Gemeinschaft in einer globalisierten Welt

In der kurzen Pause zwischen Vortrag und eigentlicher Festival­eröffnung füllt sich das Votiv Kino schnell. Als die Festival­leiterinnen Marie-Christine Hartig und Katja Seidel ans Mikrofon treten, um das Festival feierlich zu eröffnen, ist der Saal rappelvoll. Mit den Worten »Nothing exists independently« beziehen sich Hartig und Seidl auf gleich mehrere drängende Themen der letzten Jahre: Nicht nur die Corona-Pandemie hat die Verflochtenheit unserer globalisierten Welt aufgezeigt, auch die Klimakrise und die Debatte zu gestohlenen Kunstobjekten aus ehemaligen Kolonial­gebieten führen uns die Konsequenzen unseres Handelns vor Augen. Es geht um Wert­schätzung, Togetherness und das Schaffen von Begegnungs­räumen. Zum Schluss bedanken sich Hartig und Seidel persönlich beim gesamten Festivalteam und bitten ihre anwesenden Kolleg*innen auf die Bühne, um sich den gebührenden Applaus abzuholen. Die Gesichter strahlen und man merkt, wie viel Herzblut in der Organisation des Festivals steckt.

Festivalauftakt mit Stadtporträt Beiruts

Im Anschluss daran macht »Kash Kash – Without Feathers We Can’t Live« den diesjährigen Filmauftakt. Das Licht geht aus und nach einigen obligatorischen Werbe­einschaltungen sieht man Vögel, die von einer großen Hand in ein Netz gesteckt werden. Flügelschläge und Tauben­gekreische. Das Langfilm­debüt der Filme­macherin Lea Najjar porträtiert drei Libanesen, deren größte Leidenschaft die Tauben­zucht ist.

In Najjars Heimatstadt Beirut ist das traditionelle Spiel Kash Hamam weitverbreitet. Die meist männlichen Spieler*innen halten auf den Dächern ihrer Häuser Tauben und bringen ihren Vögeln bei, Tiere gegnerischer Tauben­schwärme zu fangen. So wird versucht die eigene Taubenschar zu vergrößern, aber auch, dem harten Alltag in der libanesischen Hauptstadt zu entfliehen. »I raise pigeons to forget«, erklärt einer der Protagonisten.

Beirut wird seit Jahren von wirtschaftlichen, religiösen und sozialen Krisen erschüttert. Der Film beginnt als Erzählung von Tauben­züchtern und entwickelt sich nach und nach zu einem umfassenden Stadtporträt, in dem trotz des schweren Themas Leichtigkeit und Humor nicht zu kurz kommen. »Kash Kash« schafft es, das Publikum in einen anhaltenden Bann zu ziehen. Bis auf gelegentliche Lacher ist im Kino kein Mucks zu hören.

Regisseurin Lea Najjar (rechts) beantwortet Fragen zu ihrem Langfilmdebüt »Kash Kash«. (Foto: Helena Peter)

Der Saal jubelt als Moderatorin Isiba die junge Filme­macherin im Anschluss an das Screening auf die Bühne bittet. Fast schüchtern lässt sich Lea Najjar beklatschen und bedankt sich bei ihren Freund*innen und Familie. Die in Wien geborene und in Beirut aufgewachsene Filmemacherin erzählt von den schwierigen Entstehungs­bedingungen des Films. Politische Unruhen im Libanon, aber auch die vielen Lockdowns der letzten zwei Jahre hätten die Dreh­arbeiten immer wieder unterbrochen. Dafür hätten sich allerdings auch unvorher­gesehene Erzähl­stränge entwickelt.

Wein und Fladenbrot

»Wenn es keine Fragen mehr gibt, würde ich vorschlagen: Geh ma saufen!«, schließt Moderatorin Rita Isiba scherzhaft und lädt ein, den Abend mit Wein und Musik ausklingen zu lassen. Im Foyer des Votivkinos wartet ein Buffet mit Köstlichkeiten aus aller Welt auf das Film­publikum. Kurz nach 22 Uhr öffnen sich die Türen des Votivkinos also wieder und die Besucher*innen strömen mit Wein in der einen und Fladenbrot in der anderen Hand auf die noch warmen Straßen Wiens.

Das Festival Ethnocineca zeigt noch bis 19. Mai 2022 inter­nationalen ethno­grafischen Dokumentar­film im Votiv Kino sowie im De France.

Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Weitere Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.

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