Alle Jahre wieder blickt unsere Redaktion auf die popkulturellen Highlights der letzten zwölf Monate zurück. Mit streng subjektivem Blick. Was Helena Peter aus 2022 besonders in Erinnerung bleiben wird, könnt ihr hier nachlesen.
Top 10 Songs / Tracks 2022
10. Björk – »Trölla-Gabba« (One Little Independent Records)
Stimmschichtungen, die klingen, als wären sie dem blauen Plastik-Keyboard, das ich als Kind besessen hab, entsprungen. Ein luftiger Drop und dann plötzlich peitschendes albtraumhaftes Marschieren. Meine Katze kreischt im Hintergrund. Oder doch ein Kinderchor? Super zum Gruseln oder Kichern, Böse-Schauen oder Stampfen.
9. Black Midi – »Still« (Rough Trade Records)
Wenn es eine Band gibt, die ein ganzes Universum in einem Track unterbringen kann, dann ist es Black Midi. »Still« fängt tatsächlich ungewohnt still an. Nach drei Minuten 16-Horsepower-Assoziationen materialisiert sich ein vorschneller Gedanke: »mhm, schon sehr poppig«. Dann beginnt Morgan Simpson, auf sein Schlagzeug einzudreschen, und Geordie Greep bemüht sich, seiner Gitarre die Seiten rauszureißen. Ein klassisches Black-Midi-Crescendo eben.
8. Lucrecia Dalt – »Enviada« (RVNG Intl.)
Ein bisschen steh ich einfach auf südamerikanische Rhythmen, die ich leider in Ermangelung adäquater Bildung in Sachen musikalischer Genres nicht anders nennen kann als südamerikanisch. Den Bass und die Flutes erkenn sogar ich als jazzig. »Enviada« klingt, als hätten Jun Miyake und Tom Waits die Köpfe zusammengesteckt. Dark, elektronisch, jazzig und erzählerisch.
7. Jockstrap – »Concrete over Water« (Rough Trade Records)
Zum Schnellen-Schrittes-durch-die-Kleinstadt-Latschen und Sich-dem-Winter-zum-Trotz-einfach-gut-Fühlen. So groß, clubbig, choral und glockenhell. Trotzdem weder tanzbar noch zum gemütlichen Mitsingen geeignet, weil Georgia Ellery nämlich auch in hohen Lagen noch treffsicher ist. Und irgendwann verkompliziert der experimentelle Synth die Melodie so, dass man sich richtig konzentrieren muss beim Mitsummen.
6. The Smile – »A Hairdryer« (XL Recordings)
Noch so ein Radiohead-Nebending. Eigentlich fad, aber weil Radiohead halt so weit entfernt sind von fad, kann selbst das schlechteste Nebending nur gut sein! Gitarrengezupfe tröpfelt auf zischelnde Drums, Kreise öffnen und schließen sich. 2022 war auch das Jahr, in dem ich Gevatter Yorke EndLicH live gesehen hab. Ich hab ihn mir immer als lonely wolf vorgestellt. Desillusionierend, ihn das volle Gasometer zum Mitklatschen animieren zu sehen.
5. Kisling – »Guitar 6« (Serious Serious)
Repetitive, reduzierte Sounds, gezupfte Gitarre – manchmal plain, manchmal zerhackt – und so schön schiefer Gesang. Hie und da komische Verzerrungen mit Synths und CDJs, dann wieder orientalisch anmutende Gitarrenstücke, die mich fast in Trance versetzen. Das bietet das Album »Old Live« von Kisling. »Guitar 6« entpuppt sich grad sogar als guter »Last Christmas«-Ersatz. Macht auch mit Glögg statt Sangria Spaß.
4. Tirzah – »Ribs« (Domino Records)
Tirzah schafft’s irgendwie, die romantischsten Liebeslieder zu schreiben und dabei genug Abstand zum Kitsch zu wahren, um enjoyable zu bleiben. Schunkeln und Mitsummen geht trotzdem. Gelbstichige Analogfotos, Lagerfeueratmosphäre, ich fühl mich wie in einem Coming-of-Age-Film. Tirzah ist so kompromisslos authentisch, sogar auf der Bühne. Müde Augen, ein verkehrt getragenes Pyjamaleiberl und hingeschlatzter Mumble-R&B-Gesang waren noch nie so cool!
3. Black Country, New Road – »Haldern« (Ninja Tune)
Es ist immer a pleasure, sie live zu sehen. Während May Kershaws Klaviersolo letztens im Porgy & Bess setzten sich die übrigen Bandkolleg*innen auf den Boden, schenkten sich Wein nach und lauschten ihr begeistert. Jeder Blick auf der Bühne ist ein Sich-gegenseitig-Feiern, ein Sich-und-die-Musik-Cherishen. Übrigens ist »Haldern« in Haldern entstanden. Während einer Impro-Session im Livestream des Haldern Pop Festivals haben Black Country, New Road den Track fast genau so improvisiert. Ziemlich beeindruckend. Hätt ich ihnen auch nicht abgekauft, würd’s nicht das Beweisvideo auf Youtube geben.
2. Kendrick Lamar feat. Taylour Paige – »We Cry Together« (Aftermath / Interscope Records)
Bei »We Cry Together« ist irgendwie einfach alles perfekt! Ein energiegeladener, rhythmischer Schlagabtausch. Der Song lebt von den Fuck-yous, die sich Kendrick Lamar und Taylour Paige entgegenspucken. Wenn Paige, die hiermit übrigens ihr Rap-Debüt abgeliefert hat, in ihre Solopassage mit »See, you the reason why strong women fucked up / Why they say it’s a man’s world« reinstartet, drückt’s mir jedes Mal Tränen raus. Paige kann die Gleichzeitigkeit von Wut und Verletztheit einfach so perfekt in ihrer Stimme abbilden.
1. Rosalía – »CUUUUuuuuuute« (Columbia Records)
Als ich »CUUUUuuuuuute« zum ersten Mal gehört hab, hab ich Tränen gelacht! Zuerst schreit Rosalia über einen plumpen Beat, dann singt sie opernlike, begleitet von kitschigem Klavier. Als ich dann ihr Tiktok Live gesehen hab war’s klar: Rosalía ist für mich zur Ikone des Hedonismus geworden. Goldketten, überlange Fingernägel, Teethdesign und übertriebenes Autotune, obwohl sie eh singen kann – und wie! »Ich bin, wie ich will, und feier mich dafür!« Das verkörpert Rosalía so grandios, immer zwischen Ironie und Perfektion.
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