Spätestens in den letzten zehn Jahren sind die Specialty-Coffee-Shops in Wien scheinbar wie die Schwammerl aus dem Boden geschossen. The Gap hat recherchiert, warum das so ist und ob die Wiener Kaffeehaustradition dabei hilft oder schadet.
Ich kann mich noch genau an jenen Moment erinnern, in dem mich Specialty Coffee zum ersten Mal so richtig vom Hocker gerissen hat. Es war in der ursprünglichen Location vom Jonas Reindl, neben dem namensgebenden Verkehrskonstrukt beim Schottentor. Damals röstete das Unternehmen noch nicht selbst Kaffee. Stattdessen gab es regelmäßig – wie bis heute in vielen anderen Lokalen der Szene – Kaffees von Gaströstereien aus diversen Ländern im Angebot. Häufig wechselnd, bieten diese nicht nur einen Einblick darin, was in Wien rösttechnisch gerade so abgeht, sondern in ganz Europa – manchmal gar darüber hinaus. Der Kaffee, den ich damals getrunken habe, kam aus Yirgacheffe, Äthiopien, via Amsterdam, Niederlande. Von der Rösterei White Label Coffee. Es war ein sogenannter Natural. Das heißt, die Kaffeekirschen wurden nach der Ernte zum Trocknen ausgebreitet und erst dann die Bohne vom umgebenden Fruchtfleisch befreit. Tendenziell ergibt dies fruchtigere Kaffees. Eine Tatsache, die dieser Kaffee damals mehr als bestätigte. Noch nie zuvor hatte ich einen Espresso getrunken, der so eindeutig nach Obst schmeckte, genauer gesagt, nach Heidelbeeren. Fast als wäre aus Versehen etwas Fruchtsaft in die Tasse geraten. Vom dunklen, schokoladigen, zartbitteren Getränk, das ich aus italienischen Espressobars gewohnt war, war dies meilenweit entfernt.
Die perfekte Welle
Das war Mitte der 2010er-Jahre und seither hat mich die Faszination für dieses Ding Specialty Coffee nicht mehr losgelassen. Aber was ist das eigentlich, Specialty Coffee? »Wenn es nach den Regeln der Specialty Coffee Association geht, dann ist das zunächst ein speziell ausgesuchter, qualitativ hochwertiger Kaffee«, fängt Johanna Wechselberger an, die Kriterien aufzulisten. »Dieser muss dann aber auch mit Bedacht geröstet werden, damit er eben weder verbrannt noch unterröstet ist, sondern das Beste aus diesen Bohnen herausgeholt wird. Und zuletzt muss er auf einer guten Maschine von erfahrenen Baristas richtig extrahiert werden. Es geht darum, dass der Kaffee von der Pflanze bis in die Tasse sorgsam behandelt wird.«
Ich spreche mit Wechselberger in ihrem kleinen, gemütlichen Shop am Floridsdorfer Markt, den sie selbstbewusst Die Rösterin genannt hat. Zurecht selbstbewusst, denn man kann sie durchaus als Pionierin bezeichnen. Seit Mitte der Neunziger beschäftigt sie sich bereits intensiv mit Kaffee, 2004 machte sie ihn zu ihrem Beruf. Damals war in Österreich von Specialty Coffee noch kaum die Rede. Und auch international startete die sogenannte Third Wave erst Mitte der Nullerjahre so richtig durch. Welle Nummer eins popularisierte den Kaffee als tägliches Getränk der breiten Bevölkerung. Die zweite Welle brachte italienische Espressobars – wenn auch oft unter einem ganz bestimmten Markennamen mit grünem Meerjungfrauenlogo – in jede Ecke der Welt. Und dann eben die dritte Welle: lokal in den Aktionen, global im Denken – so könnte zumindest der Slogan lauten.
Direkt nach Österreich
Dies drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass Specialty Coffee oft auf direktere Kontakte zu den Anbaugebieten und den dort arbeitenden Menschen setzt. Zwischenhändler*innen sind zwar in den meisten Fällen immer noch nötig, aber selbst dann sind die gezahlten Preise höher, die für die Bäuer*innen verbleibenden Margen meist größer und die Herkunft transparenter. Im besten Fall entwickeln sich jedoch jahrelange Kooperationen, wie auch Philip Feyer, Chef des eingangs erwähnten Jonas Reindl, weiß: »Für unseren Hausespresso beziehen wir den Kaffee von der Finca Los Alpes in Nicaragua. Wir kaufen fast deren gesamte Ernte auf und zahlen im Vorhinein für das nächste Jahr. Dadurch haben sie finanzielle Sicherheit, können das Geld in bessere Infrastruktur investieren und die Qualität verbessert sich von Jahr zu Jahr.«
Doch auch wenn bei Specialty Coffee vieles tatsächlich besser ist, wir würden nicht in unserer Welt leben, wenn alles gut wäre. Das betrifft nicht nur die Kolonialgeschichte, die tief in Kaffee eingeschrieben ist. Sondern auch die Klimakrise: Sie droht etablierte Anbaugebiete zunehmend weniger nutzbar zu machen – die Kaffeepflanzen brauchen ein sehr bestimmtes Klima. Und schließlich muss auch noch das Patriachat sein hässliches Antlitz zeigen: Nach wie vor sind Männer in der Szene stärker vertreten, besser vernetzt und prominenter sichtbar. Das beginnt bei Baristas, zieht sich durch Wettbewerbe und ist insbesondere bei Besitzer*innen und Röster*innen markant. Das Kollektiv She Brews will genau bei dieser Schieflage ansetzen.
»Es gibt eine Menge wunderbarer Frauen in der Community«, sagt Eline Ferket, eine der Gründerinnen. »Wenn wir alle zusammenarbeiten würden, dann wäre das wie eine steigende Flut, die alle Boote anhebt. Wir wollen die Probleme in der Szene ansprechen, aber vor allem wollen wir uns gegenseitig vernetzen und bestärken.« Das Kollektiv existiert noch nicht lange, ist aber mit Workshops, Gesprächsrunden und Cuppings – Verkostungen von unterschiedlichen Kaffees – schon recht aktiv. »Langfristig fände ich es super, wenn sich das Netzwerk über Wien hinaus ausbreiten würde«, so Ferket. »Gerne auch als eigenständige Ableger. Und wenn dann in ein paar Jahren eine Frau einen Wettbewerb gewinnt oder einen PhD zu Kaffeechemie macht und durch She Brews darin empowert wurde, das zu verfolgen, wäre das schon verdammt cool.«
Ferket selbst ist vor zwei Jahren nach Wien gekommen und war davor in halb Europa unterwegs. Die Wiener Szene nimmt sie als lebhaft, meist freundschaftlich, aber in vielerlei Hinsicht noch sehr im Aufbau begriffen wahr. Das sieht auch ihre She-Brews-Kollegin Nina Verhoef ähnlich, die vor zehn Jahren aus Australien nach Wien gekommen ist: »In Australien ist Specialty Coffee im Vergleich zu den meisten anderen Ländern auf einem ganz anderen Level. Dort gibt es an jeder Ecke einen Specialty-Coffee-Shop. Baristas sind ebenfalls überall. Als ich vor zehn Jahren frisch nach Österreich kam, hatte ich keine Probleme, einen Job zu finden, weil es hier so wenige Baristas gab. Und nach Specialty-Coffee-Shops musstest du damals aktiv suchen. Mittlerweile ist das Ganze viel normaler und selbst Läden, die eigentlich nicht darauf fokussiert sind, bieten zunehmend Specialty Coffee an.«
Notwendige Missionierungsarbeit
Das Österreich etwas später dran war, liegt vermutlich an einem etwas unerwarteten Problem: der Kaffeehauskultur. Denn anders als in Australien gab es dadurch bereits gut etablierte Strukturen und eine bestehende Tradition. Allerdings sei das hierzulande immer »eine Kaffeehauskultur, aber keine Kaffeekultur« gewesen, wie Johanna Wechselberger meint. Specialty-Coffee-Shops müssten deswegen nach wie vor gegen eine gewisse Trägheit ankämpfen, erzählt Helmut Haller, der das Café Comet leitet – im siebten Bezirk, vermutlich dem Hotspot der Szene in Wien.
Auch Natascha Kretzl, Geschäftsführerin vom Kaffemik, ebenfalls in Wien-Neubau, sieht das ähnlich: »Es braucht schon Missionierungsarbeit. Mein Beispiel ist immer ein Wiener Schnitzel: Wenn du dein Leben lang nur verbrannte Schnitzel gegessen hast, muss dir auch erst einmal jemand zeigen, wie gut ein unverbranntes schmecken kann.« Doch Haller sieht auch Vorteile in der Wiener Tradition: »Klassische Wiener Kaffeehäuser sind halt total entschleunigt. Slow Coffee, wenn du so willst. Ob das jetzt ein Filter ist oder eine Melange, man kann damit in der Ecke sitzen und sein Ding machen: lesen, arbeiten, Platz haben, um zusammenzukommen. Eine ewig lange Kaffeekarte gibt es dort auch – früher wurde Kaffee da noch zelebriert. Und irgendwie kam in Wien damals schon die Welt zusammen. Da gibt es also viel, was in der Specialty-Coffee-Szene jetzt weiterlebt – unter anderen Rahmenbedingungen. Das sind alles Orte der Begegnung und der Gemütlichkeit.«
Doch was hier so klein und heimelig klingt, ist mittlerweile eine breite Branche mit Vernetzungen in die verschiedensten Industriebereiche. Von spezieller Hafermilch für Specialty-Coffee-Baristas bis zu IT-Lösungen für Röstereien. Lang vorbei sind die Zeiten, in denen engagierte Einzelpersonen persönlich Kaffeesäcke per Linienflug importiert, auf selbst umgebauten Popcornmaschinen geröstet und sie anschließend eigenhändig durch die Maschine gejagt haben, um sie schließlich einem Publikum von gleichgesinnten Kaffeenerds zu servieren. Es hat eine Professionalisierung stattgefunden und auch die ehemals nischigen Ecklokale wachsen. Jonas Reindl hat mittlerweile drei Shops und beliefert andere Lokale. Kaffemik hat vor einigen Jahren eine Rösterei in Niederösterreich übernommen. Und das Café Comet hat gerade das benachbarte Lampengeschäft geschluckt und sich flugs verdoppelt.
All das soll aber nicht heißen, dass Specialty Coffee mittlerweile keinen Platz mehr hat für Experimente oder für Nerds. Man nehme nur den Aufschwung einer Vielzahl an neuen – oder alten – Brühmethoden, unter anderem jenen des Filterkaffees. Natascha Kretzl ist zum Beispiel eine große Verfechterin davon: »Filterkaffee ist facettenreicher und einfacher zu Hause selbst zuzubereiten. Espresso trinkt man besser im Shop.« Aber auch abseits der Zubereitung bietet Kaffee ein breites Feld zum Abnerden, wie Helmut Haller darlegt: »Kaffee ist eine Schnittstelle von zahlreichen Dingen. Da hast du einmal die ganze Kolonialgeschichte, dann Globalisierungsphänomene, Fastfood, die Klimakrise, Genuss- und Gastkultur. Das macht Kaffee soziokulturell extrem spannend.« Und trinken kann man das Ganze auch noch.
Von 6. bis 8. September findet das Vienna Coffee Festival in der Marx Halle Wien statt. Helmut Haller leitet das Café Comet in der Kirchengasse 44 in Wien. Im selben Bezirk, in der Zollergasse 5, liegt das Kaffemik von Natascha Kretzl. Das originale Jonas Reindl von Philip Feyer befindet sich in der Währinger Straße 2–4. Die Rösterin von Johanna Wechselberger lässt sich beim Stand 90 am Floridsdorfer Markt besuchen. Das She Brews Collective ist über ihren Instagram-Account erreichbar.