Desorientierungsübungen. Über Alice Slyngstads Solo-Show »Flare demure« im Kunstraum Niederoesterreich

Gesungene Grindr-Chat-Zitate und fluoreszierende Riesen-Maiglöckchen: Alice Slyngstads erste Solo-Show in Österreich »Flare demure« ist eine Einladung zum lustvollen Sich-Verzetteln im Ungewissen und Obskuren.

© Alice Slyngstad »Flare demure«, 2024, Ausstellungsansicht, Kunstraum Niederoesterreich, Foto: eSeL.at

Toxisch wie ein Maiglöckchen? Herumgesprochen hat es sich noch nicht, aber das zarte, unschuldig aussehende Pflänzchen (das einige auch andächtig »Marienblume« nennen) ist hochgiftig. Gelangt es über den Mund in den Körper, kann es eine ganze Reihe ziemlich übler Beschwerden hervorrufen – von Schwindel über Atemnot bis hin zum Herzstillstand. 2014 erhielt das Maiglöckchen sogar den Titel der »Giftpflanze des Jahres«.

Unschuld und Toxizität liegen manchmal näher beieinander, als man denkt. Das weiß auch Künstler*in Alice Slyngstad. Fünf massive, hoch aufragende Lichtskulpturen im Look stilisierter Riesen-Maiglöckchen hat Slyngstad für ihre*seine aktuelle Show »Flare demure« im Kunstraum Niederoesterreich produziert. Sie leuchten dem Publikum den Weg durch den ansonsten fast vollständig abgedunkelten Ausstellungsraum. Ob sie in ein Reich der Unschuld führen oder ins Verderben – oder an einen Ort jenseits von Gut und Böse –, das bleibt in »Flare demure« ungewiss, mit Gründen.

Alice Slyngstad »Flare demure«, 2024, Ausstellungsansicht, Kunstraum Niederoesterreich, Foto: Markus Gradwohl

Verführer*in im Dazwischensein

Mit Alice Slyngstad präsentiert der Kunstraum Niederoesterreich eine künstlerische Position, die sich konsequent in Zwischenräumen bewegt – inhaltlich wie medial. Aus der Performancekunst kommend, hat sich die*der norwegische Künstler*in in den vergangenen Jahren mehr und mehr der Installation zugewandt. Architektur, Sound, Licht und Skulptur verbinden sich in Slyngstads Praxis zu weitläufigen immersiven Landschaften, in denen man sich selbstständig auf Erkundungstour begeben kann – auf eigene Gefahr, versteht sich. Auch Slyngstads neueste, eigens für den Kunstraum produzierte Arbeit führt in ein solches Zwischenreich.

»Flare demure« hat Slyngstad ihre*seine erste Einzelausstellung in Österreich genannt. Nein, mit dem gleichnamigen Tiktok-Trend (»very demure, very mindful«) hat das nichts zu tun – wenngleich Demureness-Queen Jools Lebron an toxischen Riesen-Maiglöckchen, die im Dunkeln leuchten, gewiss ihre Freude hätte …

Der Titel der Show – zu Deutsch: »verhaltenes Aufflackern« – ist durchaus wörtlich zu verstehen: Licht ist in »Flare demure« Mangelware, ein knappes Gut, das nur scheinbar Orientierung stiftet. Ein eigens programmierter Algorithmus bewirkt, dass die Lichtsituation sich fortlaufend ändert, die Installation mal in diffuses Blau, mal in ein infernalisches Rot getaucht ist. Gleiches gilt für den Sound, eine kakophone Klangcollage aus gesprochenen und gesungenen Grindr-Chat-Fragmenten (»Is it OK if I go horizontal on you?«), die sich gleitend zwischen verschiedenen Punkten im Raum hin- und herbewegt, die*den Besucher*in mal in diesen, mal in jenen Winkel des Ensembles lockt. Klingt überfordernd?

Alice Slyngstad »Flare demure«, 2024, Ausstellungsansicht, Kunstraum Niederoesterreich, Foto: eSeL.at

Orientierungslosigkeit als Chance

Organisierter Orientierungsverlust – das ist das (gar nicht so) heimliche Programm dieser Ausstellung. »Im Zentrum vom ›Flare demure‹ steht das Erleben und der Umgang mit Ambiguität«, schreibt die Kuratorin der Show, die künstlerische Leiterin des Kunstraums Frederike Sperling. Wie orientiert man sich in Situationen, die man nicht überblicken kann, in denen die Regeln und Normen, die für gewöhnlich unser Handeln strukturieren, außer Kraft gesetzt sind? Wie bewegt man sich in einem Raum, in dem Nacht herrscht? Für Slyngstad sind diese Fragen eng mit der queeren Praxis des Cruisings verknüpft. Menschen, die cruisen, sind Meister*innen in Sachen nächtliche Navigation. Sie suchen und schätzen die Dunkelheit – nächtliche Parks, Kinos und Clubs –, weil sie ihnen eine Zone jenseits heteronormativer Zwänge eröffnet. Im Dunkeln zu tappen, steht hier nicht für die vergebliche Suche nach Orientierung, sondern für die Freiheit, unbehelligt der eigenen Orientierung folgen zu können.

Orientierungslosigkeit, weiß Slyngstad, bedeutet nur scheinbar einen Verlust. Wenn wir nur erahnen können, wohin wir gehen, müssen wir unserer Intuition vertrauen, um weiterzukommen. Wir müssen uns selbst einen Weg durch die Ungewissheit bahnen. Gehen wir in diese oder in jene Richtung? Wählen wir den »Pfad der Tugend«, der »Demureness«, oder lassen wir uns von unserem Begehren leiten? Folgen wir den Lockungen des Maiglöckchens – oder nicht? »Flare demure« eröffnet einen Raum, in dem man selbst entscheiden muss, wie weit man geht – ein flirrendes vielgestaltiges Nirgendwo zwischen mythischem Labyrinth und queerer Heterotopie.

Die Ausstellung »Flare demure« ist von 6. September bis 9. November im Kunstraum Niederoesterreich in Wien zu sehen.

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