Motivierende Ästhetik – Helfen Dark Academia & Co gegen Lernfrust?

In den karierten Strickpulli geschlüpft, eine Kanne Tee aufgesetzt, ein ledergebundenes Notizbuch samt Vintagefüllfeder in Griffweite – so sieht für manche der ideale Start in ein produktives Lernwochenende aus. Ästhetisierung soll zur Arbeit motivieren, Romantisierung die Produktivität steigern. Doch was ist »Ästhetik« eigentlich und was sind mögliche Schattenseiten, wenn Studieren Instagram-ready sein muss?

© Adobe Stock

Ohne eine ganz bestimmte Atmosphäre habe sich Elli irgendwann gar nicht mehr konzentrieren können. Noch während ihrer Schulzeit sei sie in »Studytube« hineingerutscht, jene informelle Community auf Googles Videoplattform Youtube, die sich – oft in ästhetisch höchst ansprechender Form – mit allen Themen rund ums Lernen beschäftigt. Von dort habe sie auch einige ihrer Lernstrategien mitgenommen. Mit Musik, duftenden Kerzen und Tee in einer schönen Tasse habe sie es sich gemütlich gemacht: »Lernen war für mich so ein richtiger Rückzugsort.« Das alles habe ihr in der Schulzeit geholfen, Lernen nicht so sehr mit Stress zu verbinden.

Vielen dürfte das ja bestens bekannt sein: Eine Arbeit ist zu schreiben, für eine Prüfung zu lernen, irgendeine Abgabe fristgerecht abzugeben; doch sich selbst aufzuraffen, erfordert teilweise enorme Anstrengung. Besonders, wenn die Option, stattdessen die nächste Netflix-Serie zu bingen, so viel verlockender erscheint. Und dann ist die Deadline auch schon da. Inwiefern kann eine Ästhetisierung also zur Motivation beitragen?

Oxford und Cambridge im (vor)letzten Jahrhundert, verwunschene alte Gebäude, die im Nebel verschwinden, sowie Anzugshemden unter Westen – das hat es Lara angetan. Um lernen zu können, brauche es spezifische Bilder, eine bestimmte Stimmung. Lara will in diesen Bildern drinnen sein. »Ich glaube, dass mir dieses Heraufbeschwören von bestimmten Stimmungen und Einstellungen hilft, die unangenehmen Aspekte am Lernen auszublenden beziehungsweise ins Positive umzukehren.«

Bild: Johnny Briggs / Unsplash

Kleidung, Musik, Kerzen, Tee

Auch problematische Aspekte dieser idealisierten Periode werden dabei explizit ausgeblendet. Stattdessen liegt der Fokus auf anderem: auf einem spezifischen Kleidungsstil, auf Kerzen oder einer Tasse Tee. Das Gefühl einer Feder auf Pergament wird beschworen, indem händisch in – farblich abgestimmte – Notizbücher geschrieben wird. »Ich hypnotisiere mich fast, versetze mich in einen Zustand abseits des Alltags, damit der Fokus rein auf dem Lernen liegen kann.«

Neben Youtube-Videos und Pinterest-Boards tragen auch Filme, Serien und Bücher zum Entstehen der angestrebten Bilder bei. Dark Academia heißt das dann beispielsweise, wenn die Inspiration aus einer romantischen Betrachtung der klassischen Mode- und Einrichtungsstile englischer Eliteuniversitäten bezogen wird. Man will selbst Protagonist*in in diesen imaginierten Welten sein, dem Alltag Spannung einhauchen.

Marie kuratiert sich ein Kostüm fürs eigene Leben: »Und die Protagonistin muss jetzt halt lernen.« Sich für etwas zu motivieren, was nicht komplett aus dem Selbst herauskommt, sei schwierig. Dann helfe es, ein Outfit anzuhaben, das dieses Selbst verkörpert: »Wenn ich mich nicht stark wie ich selbst fühle, dann habe ich das Gefühl, ich verliere mich in der Arbeit.« Marie ist ständig darum bemüht, sich selbst zu framen, und denkt dabei eine gewisse Funktionalität stets mit. Diese Funktionalität wird dann ästhetisiert. In manchen Situationen gehe das wie von selbst – wie zum Beispiel bei einem schönen Herbsttag. Für andere muss diese Ästhetisierung künstlich herbeigeführt werden. Die Extreme von Funktionalität und Ästhetik sind jedoch Stresspole, dazwischen gilt es, eine Balance zu finden.

Der Kulturwissenschaftler Maximilian Jablonowski arbeitet am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien und kennt sich mit (Alltags-)Ästhetik und Subkulturen aus. »Ästhetik ist ein Begriff, der aus der Philosophie stammt und in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes jede Form der sinnlichen Wahrnehmung bezeichnet«, erklärt er. Dabei werde der Fokus auf verschiedene Sinne gelegt, bis hin zur allgemeinen Raumwahrnehmung in der atmosphärischen Ästhetik. Später, im 17. und 18. Jahrhundert, sei Ästhetik dann zu einem Begriff der bürgerlichen Kunst geworden, die sich nicht länger in einer dienenden Rolle gegenüber der Religion verstand. »Die beiden großen Begriffe, die mit Ästhetik verbunden waren, waren Schönheit und Erhabenheit«, führt Jablonowski aus. »Das bezog sich vor allem auf Kunst und das Naturerleben.« Immer unter Einhaltung strenger Regeln.

Maximilian Jablonowski (Bild: Isek Uzh)

Ästhetik oder Stil?

Mit Ende des 19. Jahrhunderts habe dann Design angefangen, ein Thema zu werden. Die Form von Alltagsgegenständen habe an Relevanz gewonnen, sie seien als kunstwürdig entdeckt worden. Jablanowski: »Bei Ästhetik geht es immer um die Frage, wie sich Form und Funktion zueinander verhalten.« Ab den 70er-Jahren sei schließlich auch in den Wissenschaften explizit von einer »Ästhetisierung des Alltags« gesprochen worden. »Mittlerweile ist es keine Frage mehr, dass ästhetische Praktiken und Formen des ästhetischen Kategorisierens fast jeden Aspekt unseres Alltags bestimmen«, meint der Kulturwissenschaftler. In der Alltagsästhetik würde die Grenze zwischen den scheinbaren Gegensätzen des Pragmatischen und des Ästhetischen verschwimmen.

Ob Ästhetik auf Social Media nicht als eine Art visueller Darstellung verwendet werde, um Teil einer gewissen Subkultur zu sein? »Kultureller Stil hat zwar etwas mit Ästhetik zu tun, ist aber nicht das Gleiche«, erläutert Jablonowski. »Heute würde man für so etwas viel häufiger den Begriff Ästhetik verwenden, da gibt es eine Art Begriffswandel. Ich glaube, dass meine Generation die letzte war, die popkulturell noch mit einem harten Begriff von Subkultur sozialisiert wurde. Meine Annahme ist, dass die Subkultur bei Leuten, die ein paar Jahre jünger sind, schon viel weniger Bedeutung hat – nicht nur ästhetisch, sondern auch sozial.«

Jablonowski bezieht sich hier auf seine Schulzeit Anfang der Nullerjahre. Heute seien subkulturelle Markierungen dynamischer, Stile ließen sich kombinieren, Musikpräferenzen schlössen sich nicht gegenseitig aus. »Vielleicht hat das dazu beigetragen, dass man jetzt einen Begriff wie Ästhetik verwendet, der weniger schubladenmäßig funktioniert. Die große These wäre, dass wir es heute weniger mit subkulturellen Stilen zu tun haben, sondern mit popkulturellen Mikroästhetiken.« Genau diese Flexibilität scheint der Begriff Ästhetik einzufangen. Eine Ästhetik durchdringt die eigene Identität nicht zwingenderweise bis in die letzte Falte.

Vintage styled table with old books and papers, bookcore, background with copy space

Romantisiertes Leben

Auch die Regeln einer – hauptsächlich visuellen – Ästhetik sind weniger explizit. Ob und warum Kamala Harris »brat« ist, lässt sich schwer an klaren Regeln festmachen. Dabei wird das Wort Ästhetik ganz anders verwendet und Gen Z sowie Tiktok zugeschrieben – und es werden damit 3.000 Jahre Philosophiegeschichte außer Acht gelassen. Wenn, dann findet sich so etwas wie Richtlinien höchstens als Beispiele auf Pinterest-Boards. Wer hier etwa nach »Cottagecore« sucht, findet Bilder vom romantisierten Leben am Land, in der Natur, auf einem kleinen Hof. Gleichzeitig werden die Realitäten der Existenz auf einem Bauernhof ausgespart. Es geht darum, vor allem visuell und auf Fotos beziehungsweise in Videos eine gewünschte Atmosphäre zu erzeugen.

Laut Jordan Selous’ Artikel »What’s up with Our Obsession with ›Aesthetics‹?« habe es 2020 einen großen Zuwachs an verschiedenen Ästhetiken gegeben, vor allem im Bereich der Academia-Ästhetiken. In dieser Zeit des virtuellen Lernens seien Schulen, Unis und (physisches) Lernen nämlich zu etwas Begehrtem und Romantisiertem geworden. Dieses Erklärmodell leuchtet auch Maximilian Jablonowski ein. Er erinnert hier an die mitunter aufkommende Kritik an solchen Ästhetiken, eskapistisch zu sein. Wobei sich allerdings die Frage stellt: Was ist an Eskapismus so schlimm?

Die Ästhetisierung von Lernen und Arbeit trifft auch auf weitere Kritikpunkte. So kann zum Beispiel zusätzlicher Druck entstehen, wenn man sich gezwungen sieht, nach dem Posten des schönen Arbeitsplatzes auch tatsächlich unmittelbar produktiv zu sein. Oder man stellt umgekehrt die Arbeit nur fürs Foto dar und danach werden Laptop und Buch schnell wieder weggeräumt – Arbeitsästhetik als Momentaufnahme. Und zuletzt wird der tägliche Kaffeehausbesuch fürs richtige Setting irgendwann eine Frage des Geldes – für manche früher als für andere.

Die sozialen Medien vermitteln gerne den Eindruck, dass so ein schönes, stilvolles, ästhetisches Lernen die einzig »richtige« Variante sei. Dabei liegt eine deutliche Gewichtung auf Konsum: Es werden bestimmte Stifte, Notizbücher, Planer gebraucht, um am effektivsten und effizientesten lernen zu können. Lara bemerkt das auch bei sich selbst: »Es wirkt fast so, als ob man durch den Konsum besser lernt. Obwohl das nicht stimmt.« Auch hier hat der Kapitalismus eben seine Krallen hineingeschlagen und lässt so schnell nicht wieder los.

Wer kann sich das »korrekte« ästhetische Arbeiten und Lernen also überhaupt leisten? Wird durch diese Ästhetisierung und Vermarktung von Lernen Bildung womöglich noch elitärer? Oder sind es doch nur harmlose Lernstrategien und Rituale, die Personen das Arbeiten erleichtern? Ist ein ästhetischeres Leben nicht einfach schöner? »Manchmal nervt mich diese total kuratierte Ästhetik auch. Weil ich mir dann denke, dass es doch in echt gar nicht so ist«, meint Marie. »Vielleicht wünsche ich mir, dass wir mehr Unästhetisches sehen. Aber da bin ich, glaube ich, nicht alleine.«

Fast jede Social-Media-Plattform hat mittlerweile ihre eigene Study-Community wie etwa Studytube (Youtube), Studygram (Instagram), Studytok (Tiktok) oder Studyblr (Tumblr). Einen Eindruck der beschriebenen Ästhetiken vermitteln Hashtags wie #studyaesthetic, #darkacademia und #cottagecore.

Newsletter abonnieren

Abonniere unseren Newsletter und erhalte alle zwei Wochen eine Zusammenfassung der neuesten Artikel, Ankündigungen, Gewinnspiele und vieles mehr ...