Viva la necrofilia. In seinem neuesten Werk »The Shrouds« sinniert Body-Horror-Urgestein David Cronenberg über Tod und Verlust – grandios verschroben und beißend nihilistisch. Ab 8. August ist der Film exklusiv im Gartenbaukino zu sehen.

Eines muss man Karsh (Vincent Cassel), dem Protagonisten von »The Shrouds«, lassen: Er beherrscht die Kunst der Suspense. »How dark are you willing to go?«, fragt er zu Beginn des Films seine Begleitung Myrna (Jennifer Dale), kurz nachdem die beiden den Small-Talk-Teil ihres gemeinsamen Blind Dates hinter sich gebracht haben. Karsh hat vor vier Jahren seine Frau Becca (Diane Kruger) verloren. Er trauere noch immer, warnt er Myrna. Ihrer Faszination für den Fremden tut das keinen Abbruch. Vorerst.
Ein paar Einstellungen später stehen die zwei an Beccas Grab. Der Friedhof ist Teil von Karshs Bestattungsunternehmen Gravetech. Der besondere USP der Firma: Die Kund*innen können den Verwesungsprozess ihrer verstorbenen Angehörigen live auf einem Screen am Grabstein oder per Smartphone mitverfolgen. Die Toten sind in spezielle, mit winzigen Kameras bestückte Leichentücher (die titelgebenden shrouds) gehüllt, die spektakuläre 3D-Aufnahmen ihrer Körper ermöglichen. Als Karsh die Technologie Myrna am Beispiel seiner toten Frau erläutern will, erklärt sie das Date für beendet.
Cronenberg ganz persönlich
Als seinen »autobiografischsten« Film hat Cronenberg »The Shrouds« bei dessen Premiere in Cannes 2024 bezeichnet. Er verarbeite darin den Verlust seiner Frau und engen künstlerischen Weggefährtin Carolyn, so der Regisseur. 43 Jahre waren die beiden verheiratet. 2017 starb Carolyn Cronenberg an Krebs.
Tatsächlich ist »The Shrouds« ein, gemessen an Cronenbergs Frühwerk, erstaunlich leiser, geradezu bedächtiger Film. Auf schrille Schockeffekte wird weitgehend verzichtet. Der Cronenberg’sche Body-Horror kommt zwar vor – mitsamt den bekannten Lieblingsthemen des Regisseurs (Doppelgänger, Fetischismus, Krankheit, verquere Techno-Utopien etc.) –, wird durch die slicken, fast sterilen Bilder von Kameramann Douglas Koch aber immer wieder klug konterkariert. Die subtilen Performances der beiden Hauptdarsteller*innen Vincent Cassel (als Cronenberg-Lookalike) und Diane Kruger (in einer Doppelrolle) tun ihr Übriges. Wie in den Vorgängern »Cosmopolis« (2012) oder »Crimes of the Future« (2022) spielt sich die Handlung, die im Wesentlichen aus Dialogen besteht, fast ausschließlich in Innenräumen ab. Ein Drama also?
Opulenter Verschwörungsplot
In Sachen Plot nimmt »The Shrouds« zunächst eher Anleihen beim Thriller: Ein paar Tage nach Karshs verunglücktem Blind Date wird Gravetech zum Ziel eines Hackerangriffs. Auch die Hardware ist betroffen. Teile des Friedhofgeländes sind verwüstet, darunter auch das Grab von Karshs Frau. Wer die Täter sind und was sie wollen, bleibt unklar. Karsh verdächtigt erst eine Gruppe isländischer Ökoaktivist*innen, dann ein dubioses chinesisches Investmentkartell und schließlich seinen paranoiden Schwager Maury (Guy Pearce), hinter der Attacke zu stecken. Dieser verdächtigt wiederum Karsh, eine Affäre mit Terry (ebenfalls Diane Kruger), Beccas neurotischer Zwillingsschwester und Maurys Ex-Frau, zu haben. Klingt verwirrend und ein bisschen ermüdend? Ist es auch.
Allzu ernst darf man diese opulente, etwas planlos zwischen Camp und Mystery mäandernde Verschwörungserzählung nicht nehmen. Vieles davon mag noch aus der Anfangsphase des Projekts stammen: »The Shrouds« war zunächst als Netflixserie konzipiert. Nachdem Cronenberg die ersten zwei Episoden geschrieben hatte, brach die Streamingplattform die Zusammenarbeit jedoch ab. Wie das meiste in diesem Film, darf auch der wild wuchernde Plot als Allegorie auf Karshs Trauerprozess verstanden werden.
Der Tod als Businessmodell
»The Shrouds« erzählt die Geschichte eines Mannes, der dem Tod einen Ehrenplatz in seinem Leben eingeräumt hat – und nun von ihm verschlungen zu werden droht. Trauern ist Arbeit. Das wusste schon Freud. Wie widmet man sich einer solchen Trauerarbeit? Karsh wählt die Flucht nach vorne: Er macht aus dem Tod seiner Frau ein Geschäft und wird selbst zu seinem besten Kunden. Obsessiv verfolgt er den Zerfall von Beccas Leichnam auf seinem ständig griffbereiten Tablet.
Morbide Typen mit morbiden Obsessionen (und Geschäftsideen) sind bekanntlich keine Seltenheit im Cronenberg-Universum. Man denke etwa an den genialisch-verpeilten Tüftler Seth in »The Fly« (1986) und dessen Fantasie, mit anderen zu verschmelzen, oder an die Game-Entwicklerin Allegra in »Existenz« (1999) und ihre notorischen Versuche, die Grenze zwischen Spiel- und Realwelt zu verwischen. Auch die zwei Hauptfiguren in Cronenbergs Sci-Fi-Kammerspiel »Crimes of the Future« verstehen sich als Pionier*innen und Wegbereiter*innen einer neuen transhumanen Sexualität. Cronenberg-Charaktere streben in der Regel immer nach irgendeiner (perversen) Form von Transzendenz. Die Grenzen der physischen Welt sollen überschritten, die Erfahrungs- und Handlungsräume des Menschen radikal erweitert werden.
Diese Transzendenzverheißung (deren realer Fluchtpunkt natürlich meistens die Katastrophe ist) fehlt in »The Shrouds«. Auch darin unterscheidet sich der Film von Cronenbergs bisherigem Oeuvre. Protagonist Karsh will den Tod nicht überwinden, sondern zu einem festen, jederzeit abrufbaren Teil seines Lebens machen. »Memento Mori« hieß das im antiken Rom. Gravetech heißt es bei Karsh. Der postmortale Zerfallsprozess in Echtzeit und 3D. Ohne tröstendes intellektuelles Beiwerk. Ein kaltes digitales Nichts.
Ob eine solche Geschäftsidee in der realen Welt eine Chance hätte, ist fraglich. Der Tod als Livestream – wer würde für einen solchen Dienst bezahlen? Andererseits: Ein bisschen folgt ja auch »The Shrouds«diesem Prinzip. Kein Trost, keine Transzendenz, und dennoch schauen wir hin. Bis zum Schluss. Vielleicht liegt darin die abgründige Pointe dieses Films.
»The Shrouds« von David Cronenberg ist ab 8. August 2025 exklusiv im Gartenbaukino zu sehen.