Kommunikative Zwischenräume – »On a tongue’s tip, at a world’s lip« im Kunstraum Niederoesterreich

Stocken, stammeln, stottern, vergeblich um die richtigen Worte ringen – Sprache am Nullpunkt oder an der Schwelle zu etwas Neuem? Zusammen mit neun internationalen künstlerischen Positionen erforscht der Kunstraum Niederoesterreich in seiner aktuellen Gruppenausstellung »On a tongue’s tip, at a world’s lip«, welche Welten in den Lücken unserer Kommunikation verborgen liegen.

© Femke Herregraven »The Murmur of the Dying«, 2023, Filmstill

Ein rasselndes, kraftloses Stöhnen, dann helles glucksendes Gelächter – die Sounds, die Femke Herregravens Multimedia-Installation »The Murmur of the Dying« (2023) begleiten, fügen sich zu keiner Sprache im herkömmlichen Sinn. Dennoch transportieren sie Informationen, stiften eine Verbindung zu der Erlebniswelt einer anderen Person – vielleicht direkter und nachhaltiger, als es Worte jemals könnten.

Für die Arbeit, die derzeit im Kunstraum Niederoesterreich zu sehen ist, hat Herregraven eine KI mehrere Monate lang konsequent mit »nicht-normativen« Sprachdaten gefüttert: Seufzen, Schmatzen, Räuspern, Keuchen etc. Ein Teil speist sich aus Aufnahmen, die die Künstlerin am Sterbebett ihrer Eltern aufgezeichnet hat, ein anderer aus den Geräuschen ihrer kleinen Kinder. Es sind die Laute von Körpern in Grenz- und Schwellensituationen, einige erzählen vom Ankommen, andere vom Abschiednehmen.

Momente der Sprachlosigkeit, in denen ungewiss ist, ob der Fluss der Informationen versiegt oder eine neue unverhoffte Wendung nimmt, sind das Thema der aktuellen Gruppenausstellung im Kunstraum Niederoesterreich. »On a tongue’s tip, at a world’s lip« haben die beiden Kuratorinnen Tjaša Pogačar und Frederike Sperling, künstlerische Leiterin des Kunstraums, die Show genannt. Das Stocken und Stottern der Sprache (»Es liegt mir auf der Zunge!«) begegnet uns darin als Metapher für Situationen des Dazwischenseins mit ungewissem Ausgang, ein »Interregnum zwischen Welten«, wie es im kuratorischen Text heißt. Zusammen mit neun internationalen künstlerischen Positionen erkundet »On a tongue’s tip, at a world’s lip«, welche anderen Möglichkeiten des Austauschs und des Kontakts in den Lücken unserer Kommunikation verborgen liegen.

An den Grenzen der Sprache

Wie übersetzt man den Verlust von Sprache in ein Bild? Mit ihren Arbeiten »I Silence« (2023) und »I Lie« (2015) präsentiert die Künstlerin Evelina Hägglund in »On a tongue’s tip, at a world’s lip« eine ebenso einfache wie poetische Antwort auf diese Frage. Die kleinen Aluminiumobjekte sind Abgüsse von Hägglunds Mundhöhle: »I Silence« zeigt das Negativ ihres Mundes beim Schweigen. »I Lie« dokumentiert fünf (vergebliche) Versuche Hägglunds, zu sprechen. Welches Wort der Künstlerin dabei »auf der Zunge lag«, bleibt ihr Geheimnis.

Evelina Hägglund, »I Silence«, 2023; mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin

Einen Ausdruck für die eigene Erfahrung zu finden, um mit anderen in Kontakt zu treten, ist nicht nur ein kognitiver, sondern auch ein körperlicher Akt. Um dieses physische Moment von Kommunikation geht es in der interaktiven Arbeit »MYTHMACHINE« (2022) von Sahej Rahal. Im Zentrum der Animation steht ein geheimnisvolles Tentakelwesen, das durch eine Art Wüstenlandschaft wandelt. Sobald einer seiner Tentakel den Boden berührt, erklingt ein Ton. Das Kunstraum-Publikum kann in diese musikalisch-tänzerische Performance einstimmen. Die Kreatur ist so programmiert, dass sie ihre Bewegungen und Sounds an die Geräusche im Ausstellungsraum anpasst.

Geheime Zeichen

Etwas statischer, aber nicht weniger rätselhaft geht es in den Skulpturenserien von Davide Allieri und Andreia Santana zu. Auf der einen Seite die eleganten, an Satelliten und Parabolantennen erinnernden Glasfaserobjekte von Allieri (»Satellite System«, 2023), auf der anderen die post-minimalistischen Glas- und Stahlkonstruktionen aus Santanas Werkgruppe »Roof of Mouth« (2023). Wie riesige, in Metall und Kunststoff gegossene Hieroglyphen muten die Arbeiten der beiden Künstler*innen an: Fragmente einer skulpturalen Geheimschrift, zu der uns der Schlüssel fehlt.

Andreia Santana »Roof of Mouth«, 2023; Foto: © kunstdokumentation; mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin

Die Künstlerin Mila Balzhieva lenkt den Blick auf die Schriftzeichen der Natur, genauer: auf die fossilen Hinterlassenschaften der sogenannten Glossopteris (Altgriechisch für: Zungenfarn), einer Pflanzenart, die seit mehr als 250 Millionen Jahren ausgestorben ist. In ihrer gleichnamigen Textilarbeit (2024) wird die Pflanze zu einer Chiffre für das Verschwinden – und zu einer Metapher für Balzhievas eigene kulturelle Verlusterfahrung: Geboren und aufgewachsen in der Republik Burjatien in Ostsibirien, stammt die Künstlerin aus einer Kultur, deren sprachliches Fundament immer mehr ausgelöscht wird. Die UNESCO zählt Burjatisch zu den »gefährdeten Sprachen«.

Wie kommuniziert und handelt man in einer Welt, die zu verschwinden droht? Diese Frage beschäftigt auch die*den Künstler*in Siggi Sekira. In der Buntstiftzeichnung »Princess« (2025) thematisiert Sekira Erfahrungen der Überforderung und der Ohnmacht beim täglichen Konsum von Krisen- und Katastrophenbildern. Die Figur im Zentrum »atmet« Schreckensmeldungen und die eigenen Kriegserfahrungen, ist aber außerstande, sich dazu zu äußern, das Erlebte in Worte zu fassen.

Anstiftung zum Miteinander

In Krisensituationen tendieren wir dazu, uns in uns selbst zu verschanzen. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen? Die aktuelle Ausstellung im Kunstraum Niederoesterreich wählt einen anderen Weg. Wo die Sprache endet, da fängt bei ihr das Kommunizieren erst richtig an. Tjaša Pogačars und Frederike Sperlings »On a tongue’s tip, at a world’s lip« ist eine Anstiftung zur Interaktion, zum Miteinander – auch wenn uns die Worte fehlen.

Dem Performance-Schwerpunkt des Kunstraums entsprechend sind auch zwei performative Arbeiten Teil der Show. Die erste, Miriam Kongstads Performance »Free-Fall« (2023), ist am Dienstag, den 16. September, um 19 Uhr im Innenhof des Palais Niederösterreich zu sehen. Um die Frage, welche (ambivalenten) Potenziale im Kontrollverlust stecken, geht es auch hier. »Free-Fall« ist ein performativer Trip durch die Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des Fallens: vom Sündenfall über den Fall der Berliner Mauer bis zum berühmten Sturz ins »rabbit hole« in Lewis Carrols »Alice in Wonderland«.

Miriam Kongstad »Free-Fall«, 2023; Foto: Ink Agop (Präsentation im Tropez, Berlin, 2023)

Die zweite Performance im Rahmen von »On a tongue’s tip, at a world’s lip« findet am Mittwoch, den 29. Oktober, um 19 Uhr statt. Unter dem Titel »A Wobbly Federation of Tongues, Hands, Faces and Lungs« (2025) gibt die Künstlerin Marianne Vlaschits in ihrer Lecture-Performance einen intimen Einblick in ihre Erfahrungen mit dem Stottern – mit einer klaren Haltung. O-Ton Vlaschits: »Nicht das Stottern ist das Problem, sondern die Gesellschaft, die damit nicht umgehen kann.«

Die Ausstellung »On a tongue’s tip, at a world’s lip« ist von 3. September bis 8. November 2025 im Kunstraum Niederoesterreich zu sehen. Die Eröffnung findet am 2. September um 19 Uhr statt, inklusive DJ-Set von Miyra Lim.

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