Anlässlich seines kommenden Konzerts im Wiener Chelsea sprach Joel Gibb, Kopf des legendären Projekts The Hidden Cameras, mit unserem Autor János Janurik über das neue Album »Bronto«, Selbstliebe, Pop als Ort der Neuerfindung sowie seine ganz persönliche Beziehung zu Wien.

Beltane, das keltische Fruchtbarkeits- und Liebesfest, stellt mit dem Maibaum ein phallisches Symbol dar – Sinnbild für Wiedergeburt und Leidenschaft. Phallische Symbole ziehen sich durch die Geschichte: in manchen Kulturen verehrt, in anderen verdrängt. Die Römer beteten Priapus an, dessen Kult den Phallus mit Schutz verband. Kirchenväter des Mittelalters dagegen kämpften mit diesem Erbe – ein Konflikt, der bis heute anhält. Ist dieses Symbol für dich Provokation oder doch Ausdruck von Liebe?
Joel Gibb: Ich weiß nicht genug über das Thema, um wirklich intelligent zu antworten. Phallische Symbole liegen im Auge des Betrachters. Was nicht als Phallus gedacht ist, kann trotzdem so interpretiert werden.
Mit »Bronto« – »Donner« auf Griechisch – liefern The Hidden Cameras ein Album, das die Grenzen des Pop neu definiert. Joel Gibb, der visionäre Kopf hinter dem legendären Projekt, hat eine unkonventionelle Meta-Dance-Pop-Platte geschaffen, inspiriert von seiner Wahlheimat Berlin – und liefert auch bombastische Remixe, produziert von elektronischen Schwergewichten wie den Pet Shop Boys, Vince Clarke.
Pulsierende Basslinien, soulige Pianoharmonien und melancholische Streicherarrangements (gespielt und arrangiert vom langjährigen Weggefährten Owen Pallett) prägen »How Do You Love?«, einen Track auf dem Gibb jene bittersüße Zone zwischen Euphorie und Schmerz einfängt, das eigentliche Herz der Disco.
Die Pet Shop Boys verwandelten »How Do You Love?« in einen emotionalen Disco-Banger mit bombastischen Streichern und jubelnden House-Pianos.
Auch die zweite Single »Undertow« erhielt eine eigene Remix-EP. Vince Clarke kleidete den Track in funkelnde Achtziger-Synth-Pop-Texturen im typischen Yazoo-Stil – ein unwiderstehlicher Ohrwurm, der garantiert die Stimmung hebt.
Pet Shop Boys und Erasure – neben Soft Cell und Bronski Beat – haben direkt und indirekt viel dazu beigetragen, schwule Menschen sichtbar zu machen, weit über die LGBTQIA*-Community hinaus. In den 1980ern, trotz Thatcher-Ära-Homophobie, gab es in mancher Hinsicht mehr Offenheit als heute, wo Politiker*innen wieder versuchen, mit Hasskampagnen Exklusion profitabel zu machen. Wer hat dir damals Mut gegeben? Wer waren deine musikalischen Vorbilder in der Gay-Pop-Szene? Hast du ein persönliches Lieblingsstück in den Diskografien von Vince Clarke, Erasure oder den Pet Shop Boys?
Gibb: Ich war ein Kind in den Achtzigern und mochte sowohl Depeche Mode als auch die Pet Shop Boys, »Just Can’t Get Enough« und »What Have I Done to Deserve This«.
Mit seinem siebten Studioalbum »Bronto« folgt Joel Gibb den Spuren von Pionieren wie Lou Reed und David Bowie. Entstanden ist ein Werk, inspiriert von Berlin, doch aufgenommen in München, der Disco- und Nightlife-Hauptstadt Bayerns. Der in Kanada geborene Musiker lebt seit über zehn Jahren in Berlin – etwas, das seinen Sound unweigerlich geprägt hat. Nach Folk- und Country-Ausflügen tat sich Gibb mit dem Münchner Produzenten Nicolas Sierig (Joasihno) zusammen, um »Bronto« zu schaffen: ein unkonventionelles elektronisches Meta-Dance-Pop-Album für die Nacht.
Clubs waren immer Orte des Widerstands und der Gemeinschaft in der queeren Geschichte. »Bronto« beleuchtet diese bunten Aspekte auf seine ganz eigene Weise – als Hommage an die Pioniere und zugleich als deren Fortführung.
München bringt man in Sachen queerer Musik sofort mit Freddie Mercury in Verbindung. Wie auch sein Biopic zeigte, besuchte der Queen-Sänger oft die schwulen Clubs der Stadt, und hier begann er mit der Arbeit an seinem ersten Soloalbum. Mercury sagte dazu einst: »Ich hatte eine Menge Ideen, die aus mir herausbersten wollten, und ich wollte musikalische Gebiete erforschen, die ich mit Queen nicht wirklich verfolgen konnte.« Ist dir beim Sprung in die Elektro-Disco-Welt mit »Bronto« etwas Ähnliches passiert?
Gibb: Ich denke regelmäßig an Freddie, wenn ich in München bin, besonders am Gärtnerplatz. Es war mir wichtig, »Bronto« in einer anderen Stadt aufzunehmen. München ist ein Ort, an dem ich mich wohlfühle, fast wie zu Hause. Außerdem gibt es dort warme elektronische Assoziationen (Moroder), die mich lose inspiriert haben.
Auf »Bronto« schlüpft Joel Gibb in verschiedene musikalische Kostüme. Die halb-instrumentalen Stücke »Full Cycle« und »Wie wild erinnern« an kleine filmische Epen, irgendwo zwischen Ennio Morricone und Vangelis.
Als ich »Wie wild« zum ersten Mal hörte, dachte ich sofort an eines meiner Lieblings-Synth-Alben: »China« von Vangelis. Täusche ich mich da oder kam die Inspiration woanders her? Gibt es einen Filmscore, den du immer wieder auch außerhalb des Kinos hören kannst?
Gibb: Wie wild ist ein einzigartiges Stück, halb Filmsoundtrack, halb emotionale Ballade. Ich wollte an beiden Enden des Albums Musik haben, die die Dance-Texturen durchbricht und zusätzliches Drama hineinbringt. Obwohl ich Vangelis und Morricone sehr bewundere, höre ich ehrlich gesagt nicht regelmäßig Soundtracks. Wenn ich wählen müsste: Der »Blade Runner«-Soundtrack ist ikonisch und etwas, zu dem ich immer wieder zurückkehre.
Der dubbige, downtempo Synth-Track »I Want You« spielt mit einer der gängigsten Phrasen der Popmusik – mit einem Augenzwinkern Richtung Depeche Mode. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie Martin Gore den Song singt, so sehr evoziert der Song dessen Stimme.
Wie stehst du dazu? Wie ist deine persönliche Beziehung zur Musik von Depeche Mode? Als Künstler bei Mute Song – wie siehst du die erste kommerziell erfolgreiche Band des Labels? Gibt es auch eine persönliche Verbindung zu Daniel Miller?
Gibb: Depeche Mode haben einen besonderen Platz in meiner musikalischen DNA. Ich war sieben, als ich »People Are People« hörte – seitdem war ich Fan. Ich bin seit zwanzig Jahren bei Mute Song, es fühlt sich also fast wie Familie an.
Zum Abschluss beschließt das epische »Don’t Tell Me That You Love Me« das Album – mit einem hallenden Streicherarrangement von Owen Pallett, das noch nachklingt, während wir nach Hause gehen. Es ist der Song auf »Bronto«, der am ehesten an den emotionalen Folk-Pop von The Hidden Cameras erinnert. Und er ist tatsächlich eine Hommage an die Vergangenheit: Gibb schrieb ihn bereits 2007, die Vocals stammen ebenfalls aus dieser Zeit. »Bronto« wird so zu einer Zeitkapsel über Jahrzehnte hinweg, ein Dialog mit seinem jüngeren Ich und eine Rückbesinnung auf die Wurzeln von The Hidden Cameras.

Wenn du zurückblickst: Wie bewertest du deine musikalische Reise bisher? Worauf bist du am meisten stolz? Wer ist der »wahre« Joel Gibb – der Folk-Pop-Songwriter oder der Electro-Disco-Troubadour (manchmal fast im Jake-Shears-Stil), der die Tanzflächen füllt? Weißt du schon, wohin dein nächstes Album gehen wird?
Gibb: Ich glaube nicht, dass es eine »wahre« Version von mir gibt. Ich will immer etwas anderes machen. Vielleicht ist es ein Fehler, nicht bei einem Genre zu bleiben, aber ich bewundere Künstler*innen, die sich neu erfinden oder etwas Neues ausprobieren – oder sich zumindest weiterentwickeln. Ich rede ungern über Dinge, bevor sie fertig sind, aber ja, ich habe bereits neues Material aufgenommen – es wird etwas Unerwartetes sein.
Wirst du dich auf deiner kommenden Tour ausschließlich auf die Songs und den Sound von »Bronto« konzentrieren oder wird es auch Raum für Folk-Pop geben? Gibt es eine Location, auf die du dich besonders freust?
Gibb: Dieses Jahr habe ich die Shows meistens so aufgebaut: Ich eröffne oft mit »Don’t Tell Me That You Love Me« und spiele dann ein ganzes Set älteren Materials mit Gitarre. Danach folgt ein elektronisches Set in der Mitte, das auch »Carpe Jugular« beinhaltet. Das Set endet oft mit einem*einer Gast-Sänger*in oder -Musiker*in. Besonders freue ich mich darauf, zum ersten Mal in Polen zu spielen – auch, weil es mit meinen Freunden von Efterklang sein wird.
Wien hat bereits mehrere Referenzen in der Popmusik erhalten. Man denke nur an »Vienna« von Ultravox, eine der Grundlagen von New Wave. Andreas Dorau, der als Wunderkind mit der Neuen Deutschen Welle begann und zu einer Kultfigur wurde, hat Wien ein ganzes Album gewidmet. Vor kurzem gab er ein Konzert im Chelsea, dem Club, den du bald besuchen wirst. Wie ist dein Verhältnis zu Wien?
Gibb: Auf meiner ersten Rucksackreise durch Europa als frischgebackener Uni-Absolvent habe ich jeden Tag Songs geschrieben. »A Miracle« entstand, als ich Paris mit dem Zug Richtung Normandie (Saint-Malo/Mont-Saint-Michel) verließ. Wenige Wochen später schrieb ich »High Upon the Church Grounds« in Wien. Es basierte auf einer Kirche in der Nähe der Jugendherberge, in der ich übernachtete – leider kann ich mich nicht mehr erinnern, welche Kirche es war. Seit diesem ersten Besuch habe ich mittlerweile dreizehn Mal in Wien gespielt, aber noch nie in einer Kirche. Ich denke, das ist längst überfällig.
Mit »Bronto« zeigt Joel Gibb, dass Pop dann am stärksten ist, wenn er sich neu erfindet – donnernd, verspielt und zutiefst menschlich. Über zwei Jahrzehnte nach den ersten Releases von The Hidden Cameras ist er immer noch auf der Suche und beweist, dass Veränderung das eigentliche Wesen des Überlebens ist.
»Bronto« von The Hidden Cameras erscheint am 12. September bei Motor Entertainment. Am 6. November ist Joel Gibb live im Wiener Chelsea zu erleben.
Weitere Live-Termine: 11. September, Berlin, Rough Trade Store — 15. September, London, Rough Trade East Instore — 3. November, Prag, Café v lese — 15. November, Warschau, Niebo — 19. November, Berlin, Berghain Kantine — 9. Dezember, Madrid, El Sol — 10. Dezember, Barcelona, Upload — 12. Dezember, Lissabon, Musicbox