Wahrheit tut weh – »Caché« am Volkstheater Wien

2005 kam der Mysterythriller »Caché« von Michael Haneke in die Kinos, in dem das geordnete Leben einer bürgerlichen Familie plötzlich durch anonyme Filmkassetten terrorisiert wird. Nun wagt sich das Volkstheater in einer Inszenierung von Felicitas Brucker an den Stoff, kann sich dabei aber zu wenig von der Filmvorlage lösen.

© Felicitas Brucker

Wir blicken auf eine Wohnung, besser gesagt zuerst noch auf die Videoaufnahme einer Wohnung. Hinter der leicht transparenten Leinwand können wir aber bereits die Bewohner*innen bei ihren Tätigkeiten erahnen. Wir hören Kaugeräusche, aber niemand ist beim Essen zu beobachten. Ist es vielleicht die Person, die gerade dieses Video aufnimmt und dabei ein Müsli mampft? Vermutlich soll die Einspielung doch eher uns, das Publikum symbolisieren, das wie im Kino, Popcorn und Spaßgetränke in sich reinschüttet. Beobachtend, abwartend. Gleich zu Beginn werden die Zuschauer*innen somit vor die Tatsache gestellt, dass sie an diesem Abend als Voyeur*innen dasitzen werden, als Beobachter*innen und Parallelläufer*innen einer Tragödie.

Die Kernfamilie, gespielt von Sebastian Rudolph (der Vater), Johanna Wokalek (die Mutter) und Moritz Grossmann (der etwas stumme Sohn), scheint zu Beginn nur ihrem Alltag nachzugehen und doch wird es bereits hier irritierend. Denn noch bevor die erste Filmkassette von der Decke fällt, ist eine gewisse Anspannung auf der Bühne. Eine Anspannung, die sich im Laufe des Abends intensivieren wird, sobald dann eben die Videos auftauchen. Diese werfen Fragen auf, stellen das Vertrauen der Eheleute genauso wie deren Beziehung zum Sohn auf die Probe. Wir blicken in den Kopf des Vaters, eines Mannes, der glaubt, sich nichts hat zuschulden kommen lassen, sich jedoch verzweifelt an seine Unschuld klammert, dabei bewusst noch mehr Schuld auf sich lädt und sich am Ende nackt ins Bett legt, um zu schlafen. #toxischemännlichkeit

Transzendent können wir beobachten wie ganz Frankreich von seiner bösen Vergangenheit – genauer gesagt von dem polizeilichen Massaker an algerischen Demonstrant*innen 1961 – eingeholt wird. Dieser Massenmord, der erst dreißig Jahre später als solcher anerkannt wurde, bringt ein anderes Thema des Abends auf den Tisch: die scharfkantige Wahrheit.

»Caché« (Bild: Felicitas Brucker)

Tausend Wahrheiten

Die Wahrheit ist unter ständigem Feuer, von links, von rechts, von oben, von unten wird geschossen – und zwar scharf. Jede*r will die Wahrheit auf der eigenen Seite wissen und legt sich die Welt und ihre Ordnung für die persönlichen Zwecke und Ideologien zurecht. Derartige Szenen kann man heute millionenfach im Netz beobachten. Auf den kleinen Bildschirmen flackern im Sekundenbruchteil verschiedenste Wahrheiten und so leben auch wir selbst verschiedenste Wahrheiten gleichzeitig. Wir sind für Klimaschutz und fliegen doch mit dem Flugzeug auf Urlaub. Wir sind gegen Einwanderung, aber stellen doch eine rumänische Pflegekraft ein. Widersprüchlich und unfähig sich mit dem eigenen Selbst zu verstehen, zeichnete Michael Haneke die Figuren in seinem Film »Caché«. In der gleichnamigen Bühnenfassung flackern auf großer Leinwand gefilmte »Wahrheitsszenen« über die Bildschirme, auf der Bühne passiert auch »eine« Wahrheit und jede Figur in diesem Stück hat ihre »Wahrheit«, die sie bis aufs Letzte verteidigen wird. Aber hat sich da nicht vielleicht jemand im Wort geirrt? Könnte der Regisseurin ein ähnlicher Fehler passiert sein wie auch Michael Haneke, als dieser meinte, es handle sich um die Tausenden Wahrheiten, die er in seinen Filmen vorführt?

Der Begriff der Wahrheit hat sich verklärt, weil er im Alltag meist falsch verwendet wird. Wenn wir von Wahrheit reden wollen, müssen wir uns im Klaren sein, dass die Wahrheit keine Beschreibung für eine Sache ist, die wir für richtig ansehen. Vielmehr ist Wahrheit etwas sehr Robustes, das sich durch Filmaufnahmen letztlich nicht beweisen lässt. Sollten wir doch spätestens seit KI-Videos wissen, dass wir Bildmaterial nicht ohne Weiteres vertrauen dürfen. Schon die analoge Fotografie manipuliert durch Perspektive, Ausschnitt und Inszenierung. Die wirkliche Wahrheit hingegen kann nicht durch Wahrnehmung geformt sein. Sie ist kalt und hart, und ihre Kanten verlaufen spitz, so dass man sich an ihnen schneiden kann, wie es der Vater während des Stücks des Öfteren tut. Und so zeigt auch Michael Haneke in seinem Film immer wieder unbewegliche Bewegung und kommt der Wahrheit damit mitunter sogar recht nahe. Aber davon zu sprechen, verschieden Wahrheiten ablichten zu können, ist überheblich, jedes Kameraobjektiv ist subjektiv gerichtet und kann daher nicht die Wahrheit erkennen.

In ihren Werken markieren sowohl Haneke als auch Brucker durchaus die Bedeutung von Perspektive und tasten die Grenzen einer subjektiven Objektivität aus. Wer nimmt all diese Videos auf? Wer dringt da in dieses Familienleben ein und wer gräbt diese Traumata wieder aus? Ist es unser Unterbewusstsein oder gar die Wahrheit selbst? Doch obwohl die Bühnenfassung dabei fast wie ein traumgestalteter Querschnitt funktioniert, wird der Wahrheitsbegriff hier meist als Erzählform missbraucht. Zwischendurch eingespielte historische sowie aktuelle Fälle von Polizeigewalt an PoC in Amerika und diverse Kriegsszenarien werden mit der fiktiven Handlung vermischt. Typisch postmodern ist es am Ende egal, wer sich brutal die Kehle aufschlitzt oder wer gebrochen im Bett liegt. Denn das Publikum kann sich auf niemanden so richtig einlassen. Wer sind diese Menschen auf der Bühne? Sie bleiben hohl, soziologische Knetmasse unserer Gesellschaft ohne emotionale Greifbarkeit. Dafür geht alles zu schnell und entfremdet vor sich.

»Caché« (Bild: Felicitas Brucker)

Wo ist sie, die Endzeit?

Wie und wann können wir Buße tun? Können wir schuldig sein und wieso tun wir böse Dinge? Das ist die Komplexität der Fragen, die an diesem Abend verhandelt werden. Mit geballtem Intellekt geht das Team um Felicitas Brucker dieses Stück an. Und dieser Intellekt legt sich über die Inszenierung. Dadurch wird die Luft zum eigenen Denken etwas dünn und auch das energetische Spiel der Schauspieler*innen – Bernardo Arias Porras schlüpft von Rolle zu Rolle und heizt die Bühne mit seinen Counterparts Rudolph und Wokalek ordentlich auf – kann kein Feuer fangen. Zu viel der guten Ideen.

Mehrmals werden Unterwasser-Szenen auf den verteilten Bildschirmen gezeigt: Georges Laurent kämpft unter Wasser mit sich selbst und auch sein Sohn kämpft mit dem vererbten Tätertrauma. Mit bebendem Körper exerziert er sich auf der trockenen Bühne wie ein Fisch beim Ertrinken. Eine Metapher für die Algerier*innen, die damals in der Seine gewaltsam ertränkt wurden?

Das Programmheft sowie der ganze Abend lesen sich als tiefe Verbeugung vor Michael Haneke, der an diesem Abend allerdings nicht auf der Bühne steht. Allein sein Werk wird hier angepasst und adaptiert für eine Vorstellung, die sich zunehmend in ulkigen bis bedrohlichen Stilelemente und Metaphern verliert. Vielleicht aus zu großem Respekt, vielleicht weil man sich in der intellektuellen Vorbereitung verlaufen hat, kann diese Regiebearbeitung leider nicht für sich alleinstehen. Ja, sie ist sogar auf den Film angewiesen. Vielleicht kann sie eher als szenischer Appendix verstanden werden, der da und dort gute Einfälle zum Einfangen von tiefenpsychologischen bis lächerlichen Verhaltensmustern aufweist. Und dem es gelingt das Publikum dabei nicht in den plüschigen Voyeur*innensitz sinken zu lassen.

»Caché« hatte am 14. September 2025 Premiere. Die Inszenierung läuft noch bis 26. Oktober 2025 und wird darüber hinaus in das Repertoire des Volkstheaters übernommen. Mit diesem Wochenende eröffnet das Volkstheater seine Saison 2025/26 unter der neuen Intendanz von Jan Philipp Gloger.

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