Unsere Bühne – Judith Fliedl mit »Embodied Resonances« bei Wien Modern

Während eines Konzertes aufzustehen, gilt als unhöflich. Herumzulaufen wirkt befremdlich. Ins Rampenlicht zu treten, einen Schritt neben der Künstlerin, scheint völlig falsch. Und doch fühlt es sich erstaunlich richtig an.

© Alejandro del Valle-Lattanzio

Judith Fliedl begab sich vor circa fünf Jahren aus dem sicheren Umfeld der klassischen Musik hinein in eine neue, dichte und facettenreiche Welt. Zeitgenössische Musik. Seither erforscht sie diese unermüdlich. Die Alte Schmiede wird zum Labor und mit einem Programm von sechs Stücken möchte die Künstlerin Grenzen verschwimmen lassen. Die Grenze zwischen Publikum und Musiker*in. Zwischen Fremden und sich selbst.

Die Zuschauer*innen tauschen unsichere Blicke aus. Judith Fliedl lädt das Publikum dazu ein, den Raum und die Nähe zu ihr zu entdecken, den Namen der Komposition »Begegnungen« Realität werden zu lassen. Es ist still. Man kann seine Sitznachbar*innen atmen hören. Judith Fliedl beginnt – und ein erster Mutiger löst die Unsicherheit in der Luft auf. Er erhebt sich und alle Köpfe drehen sich in Richtung rechter Ecke des Raums. »Die Leute stehen eigentlich nicht gerne auf, weil es bedeutet, dass sie dann auf einmal im Zentrum sind«, erzählt Fliedl später. Es ist spürbar, wie der Fokus auf dem mutigen Mann in der zweiten Reihe liegt. Doch das scheint weder sie noch ihn zu stören. Er tastet sich heran. Schrittweise. Näher und näher, bis er kurz vor ihr steht. Judith Fliedl sucht Augenkontakt und spielt direkt für ihn. Die Spannung zwischen den beiden ist selbst aus Reihe drei, auf dem Stuhl sitzend, spürbar.

Später erklärt Fliedl, welch großen Einfluss das Verhalten des Publikums nicht nur auf die Atmosphäre, sondern auch auf den Verlauf der Performance hat. »Ich versuche musikalisch auf die Ausstrahlung der Person einzugehen«, erklärt sie. »Die Person steuert mich und steuert somit den ganzen Raum, weil Gerard – der die Elektronik bedient – wiederrum auf mich und mein Spiel eingeht. So hängt alles irgendwie zusammen.«

Judith Fliedl »Embodied Resonances« (Bild: Alejandro del Valle-Lattanzio)

Lieber wegschauen?

Nicht unbedingt zugängliche Musik, schafft für zwei Menschen, die sich eigentlich völlig fremd sind, einen Zugang zueinander. Klingt widersprüchlich. Funktioniert in der Praxis aber ausgesprochen gut. Doch Judith Fliedl geht noch einen Schritt weiter.

Ein nachfolgendes Stück, das als Kompositionsauftrag von Wien Modern entstanden ist, verleiht dem Abend eine weitere Dimension. Mit der Uraufführung von »Inter/Dependenzen« sucht die Musikerin nämlich selbst den Kontakt zum Publikum. Sie macht sich auf den Weg – auf die Suche nach Menschen, nach einzelnen Personen, für die sie ein Solo spielt. Verfolgt man ihren Blick, erkennt man schnell die auserwählte Person. Unbeirrt bahnt sie sich ihren Weg und bleibt mit etwas Abstand stehen. Sie spielt. Von außen betrachtet – als nicht angespielte Person – wirkt die Situation fast etwas zu intim. Als hätte man kein Recht, dabei zu sein. Als sollte man lieber wegschauen.

In diesem Modus ist kein Konzert wie das andere. Kein Moment vorhersehbar. Die Künstlerin gibt die Kontrolle ab, begibt sich in eine Position, in der man angreifbarer nicht sein könnte. »Die erste Person, für die ich gespielt habe – so ein Erlebnis hatte ich noch nie – sie hat mir so in meine Seele geschaut.« Eine kurze Atempause. »Hätte ich noch weitergespielt, hätte ich geweint«, erinnert sich Fliedl.

Vielleicht hat man sich im Programmheft verschrieben. War das ein Konzert? Mehr ein Schauspiel. Vielleicht Improtheater. Jedenfalls ein Experiment.

Das Konzert »Embodied Resonances« von Judith Fliedl war als Teil des Programms von Wien Modern am 9. November 2026 in der Alten Schmiede zu hören.

Dieser Text ist im Rahmen eines Schreibstipendiums in Kooperation mit Wien Modern entstanden.

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