Ein echtes Kind zu sein: davon träumt die Holzpuppe Pinocchio. Aber was braucht es dazu? Und muss man als Kind immer die Wahrheit sagen oder darf man auch mal, naja, lügen? Die neue Adaption des Kinderbuchklassikers von Carlo Collodi am Dschungel Wien ist ein witziger wie berührender Ausflug in Pinocchios Welt – für jede Nase!

»Die Erwachsenen müssen kein Pscht zu den Kindern machen!« Zu Beginn des Abends erklingen diverse Kinderstimmen vom Band, erklären kurz die Theaterregeln und stellen klar: Im Dschungel Wien muss man nicht die ganze Zeit ruhig dasitzen. Und gerade bei diesem musikalischen Schauspiel von Nils Strunk und Lukas Schrenk bleibt es auch tatsächlich nicht lange leise: Laut zu lachen, hineinzurufen und mitzuwippen stehen bei »Pinocchio« am Programm. In mitreißenden musikalischen Einlagen werden italienische Volkslieder und Opernarien mit neuen, kindgerechten Texten zum Besten gegeben – alle Zeichen stehen auf Italopop.
Ein frisch geschnitzter Sohn
Die Handlung beginnt in der Werkstatt von Geppetto (Wolfram Rupperti). Der ist gerade drauf und dran, ein Stück Holz zu zersägen, um daraus ein Tischbein zu schnitzen.Doch da meldet sich der Holzklotz selbst zu Wort: Den ganzen Tag nur rumstehen, das sei doch langweilig! Viel besser wäre es, ein Kind zu sein. Mithilfe eines exakt choreographierten Schattenspiels gelingt es dem Regieduo Leonard Dick und Andrej Agranovski den berühmten hölzernen Held vor unseren Augen zum Leben zu erwecken. Nur der erste von vielen liebevollen und klugen Regieeinfällen des Abends.
Durch steife und abgehackte Bewegungen unterstreicht Florian Klinger sogleich das hölzerne Wesen seines Pinocchios. Und während dieser damit beschäftigt ist, laufen zu lernen und vom Publikum mehr darüber zu erfahren, was man eigentlich in der Schule macht, muss Geppetto erst einmal mit seiner neuen Rolle zurechtkommen: Auf rührende Weise ist er als Papa zunächst etwas überfordert.

Jetzt investieren!
Statt in die Schule geht es jedoch erst mal in die große weite Welt. Auf seinen Abenteuern begegnet Pinocchio den unterschiedlichsten Gestalten (alle verkörpert von Lara Sienczak und Jasmin Weissmann): Ob als Polizistinnen mit Blaulicht am Kopf – ein Auftritt, der den gesamten Saal zum Lachen bringt – oder als schwerhörige Fischerinnen bevölkern sie die Märchenwelt mit vielschichtigen Figuren. So auch als Katze und Fuchs, die in Crypto-Bro-Manier mit der Frage »Pinocchio, wo siehst du dich in fünf Jahren?« versuchen, die Holzpuppe zum sogenannten »Wunderfeld« zu locken. Sofern man dort ein Goldstück vergrabe, wachse an derselben Stelle ein ganzer Goldstückbaum – das Geld vermehre sich von allein. Die Warnrufe aus dem Publikum überhört Pinocchio dabei.

No Signal mit dem Zauberstab
Aber wie war das noch mal mit dem Lügen? Das ist ja für Pinocchio und seine Nase immer ein brennendes Thema. Als er sich deshalb an die Fee mit den blauen Haaren wendet, kommt der gesamte Charme der Inszenierung zur Geltung: Gerade will sie ihm eine Anleitung geben, doch auf einmal ist sie nicht mehr zu hören. Tonlos bewegt sie die Lippen. Anscheinend stimmt etwas mit der Verbindung nicht. Als die Fee mit ihrem Zauberstab das Netz endlich wiederfindet, sind ihre Instruktionen schon vorbei. Ob und unter welchen Umständen eine Lüge also der Wahrheit vorzuziehen ist, muss somit selbst ausgelotet werden. Sowohl von Pinocchio als auch vom Publikum.
Das Schauspiel mit Musik »Pinocchio« hatte am 27. November 2025 am Dschungel Wien Premiere und wird dort noch bis zum 4. Jänner 2026 gezeigt.
Dieser Text ist im Rahmen eines Schreibstipendiums in Kooperation mit dem Dschungel Wien entstanden.