Siegestrunken von dem Ausgang der jüngsten Volksbefragung entblödete sich am 25.1.2013 Seniorenvertreter und ÖVP-Urgestein Andreas Khol nicht, in seinem Kommentar „Mehrheit zählt, das ist Demokratie“ den „Standard“-Leserinnen und Lesern endlich das zu erklären, was er unter „Demokratie“ versteht. Die erschreckende Quintessenz: In einer Demokratie entscheidet immer die Mehrheit über die Minderheit.
In einem wesentlichen Punkt muss man Khols Kommentar Recht geben: Die nachträgliche Diskussion über die Vor- und Nachteile der angebotenen Rekrutierungsmodelle können wir uns getrost ersparen. Das Thema ist nämlich realpolitisch gegessen. Daran wird die Tatsache, dass auch VOR dem Urnengang keine sinnvolle, konzeptbasierte Diskussion stattgefunden hat, nichts ändern. Lassen wir also das Pflichtheer Pflichtheer sein – das Problem wird sich ohnehin mangels Verteidigungsnotwendigkeit und insbesondere Geld früher oder später von alleine erledigen. Den billigen Versuch Khols, unter Missbrauch des Wortes „Demokratie“ den Befürwortern des Berufsheers schnell noch „eine auszuwischen“, kann man aber nicht so ganz einfach stehen lassen. Er gehört aufgegriffen um vor Augen zu führen, welch gefährliches Demokratieverständnis in den Köpfen Khols und Vertretern seiner politischen Alma Mater, der ÖVP, schlummert.
1859: hüben wie drüben?
Das von Khol leidenschaftlich propagierte Modell der „Diktatur der Mehrheit“, im O-Ton recht apologetisch mit der „Weisheit der Vielen“ gerechtfertigt, ist nicht nur bedenklich; seit dem Erscheinen von John Stuart Mill’s „On Liberty“ vor über 150 Jahren ist es auch hoffnungslos überholt. Zur Erinnerung: Mill’s außer Kontrolle geratener Essay (auch) über die ethischen Grenzen der Demokratie, erschien 1859 als Buch und änderte den abendländischen politisch-philosophischen Diskurs nachhaltig.
Just im Erscheinungsjahr dieses Werks war Österreich ebenfalls beschäftigt, Geschichte zu schreiben: In Solferino holte sich Kaiser Franz Joseph, seines Zeichens Herrscher von Gottes Gnaden und bis in die Gegenwart Sehnsuchtssubjekt mehrerer schwarzer Generationen, seine erste militärische Niederlage. Ironischer kann die Geschichte kaum sein: Während in England der philosophische Diskurs über Freiheit und Demokratie einen nie dagewesenen Höhepunkt erreicht hat, mussten tausende österreichische Pflichtwehrdiener ihr Leben lassen. Angeblich für Gott und Vaterland, in der Tat aber wegen einer kriminellen medizinischen Unterversorgung, eines konzeptlos geführten Heers und insbesondere einer chaotisch (nicht)geführten Schlacht.
Etikettenschwindel
Auf das, was hinter dem von der ÖVP favorisierten Rekrutierungsmodell steckt, geht Khol in seinem Kommentar natürlich nicht ein, schließlich ging es ja primär um Stärkung unseres demokratischen Geistes. Hier also eine kleine Ergänzung: Wegen der strukturellen Sinnlosigkeit des Bundesheerdienstes optieren zahlreiche Zwangsverpflichtete zum Zivildienst, Tendenz steigend. Dies wissen natürlich auch alle Entscheidungsträger, die, ungeachtet ihrer politischen Lagerzugehörigkeit, schon immer schmerzhafte Entscheidungen im Pflegebereich mieden wie der Teufel das Weihwasser.
Und so kommt es, dass nun mit fadenscheinigen Argumenten wie „Landesverteidigung“ und „Katastrophenschutz“ in der Tat die Versorgung von Caritas und Co. mit billiger Zwangsarbeit aufrechterhalten werden soll. (Detail am Rande: Das Desaster in und um Solferino führte zur Gründung des Roten Kreuzes, also jener Organisation, dessen Existenz – auch nach eigenen Angaben! – in Österreich von der Zwangsarbeit zahlreicher Zivildiener abhängt). Khol, wohl wissend, dass er und seine Generation keinen Eingriff in die eigenen Grundrechte infolge der getroffenen Entscheidung zu befürchten haben, frohlocken über den ach so demokratischen Ausgang der etwas streng riechenden Volksbefragung. Ziel erreicht: Die Wahlpflicht, also die Pflicht, zwischen dem zwingenden 6-monatigen Wehrdienst oder der 9-monatigen Zwangsarbeit, in wessen Dienst auch immer, ist nun tatsächlich gesichert.
Darf man aber, ganz so einfach, jemanden verpflichten, zwischen Pest und Cholera zu wählen?
Wahlpflichten in Österreich
Eine echte Wahlpflicht, also den gesetzlich verankerten Zwang, aus x gegebenen Handlungsoptionen mindestens eine zu wählen, begegnen wir in Österreich glücklicherweise selten. Neben besagter Wehr-Wahlpflicht sowie steuerlicher Wahlzwänge – die allesamt mit einer erzielbaren Verwaltungsvereinfachung bzw. der Bekämpfung der Steuerhinterziehung halbwegs gerechtfertigt werden können – ist nur die im Schulbereich nennenswert. Schüler der Sekundarstufe 2, die, aus welchem Grund auch immer, den Religionsunterricht nicht besuchen, haben sich einem Ethikunterricht (als „Ersatzpflichtgegenstand“) zu unterwerfen. Da jedoch niemand (mehr) gezwungen werden kann, dem Religionsunterricht beizuwohnen, liegt hier eine echte Wahlpflicht vor; derzeit in über 200 Schulen bundesweit anzutreffen, demnächst aber flächendeckend – so zumindest der fromme Wunsch der ÖVP.
Die vorgeschobene Begründung: Kinder, die den Religionsunterricht ersatzlos nicht besuchen, riskieren die ethische Verwahrlosung. Die wahre Motivation: Ein Strafethikunterricht für Religionsdissidenten ist, anders als die bisher übliche Freistunde, bestens dazu geeignet, die ständig steigenden Abmeldungsraten vom Religionsunterricht einzudämmen.
Aja, und vor einem Jahr kam auch noch der Vorschlag, mittels einer Abgaben-Wahlpflicht Taufscheinkatholiken den finanziellen Anreiz, aus der Kirche auszutreten, zu entziehen. Der Urheber: ein ebenfalls tiefdemokratisch geprägter Parteikollege Khols aus Oberösterreich. Dieses Hirngespinst landete zwar alsbald in der Gedanken-Rundablage, keineswegs aber dank eines Machtwortes des ÖVP-Chefs (er wollte die Idee zuerst „näher studieren“) sondern aufgrund einer gesunden öffentlichen Empörung.
Die Wahlpflicht: eine postdemokratische konservative Taktik?
Dass eine erzwungene Wahlpflicht bestens dazu geeignet ist, eine bestimmte politische Agenda mit vorgeschobenen Argumenten durchzupeitschen, liegt auf der Hand. Dass einheimischen Wahlpflicht-Beispiele schwarzer Provenienz sind ist auch nicht zu übersehen. Folgende Frage stellt sich also fast von selbst: Lässt sich die Vorliebe des konservativen Lagers, politische Prozesse mittels des Einsatzes einer Wahlpflicht in ihre Richtung zu biegen, wissenschaftlich nachweisen?
Diese Frage beantworteten Helmke und Meguid in ihrer hierzulande viel zu wenig beachteten Studie Endogenous Institutions: The Origins of Compulsory Voting Laws. Die wenig überraschende Erkenntnis: es waren überwiegend konservative Parteien, die zwischen 1862 und 1998 in 20 Demokratien die Einfuhr der „Mutter aller Wahlpflichten“, also die parlamentarische Pflichtwahl, forciert haben. Die statistisch signifikante Hauptmotivation: Erosion der eigenen parlamentarischen Machtposition.
In Österreich scheint die Einfuhr der parlamentarischen Pflichtwahl (hoffentlich) nicht bevor zu stehen. Sollte sie irgendwann dennoch kommen, wäre sie, entsprechend den Ergebnissen der Studie, am wahrscheinlichsten der ÖVP zu verdanken. Eine natürliche Partnerin für solch ein Unterfangen hätte die ÖVP unter Umständen jetzt schon: die KPÖ. Bezüglich der Diktatur der Mehrheit herrscht vermutlich schon jetzt Einigung.
Mag. Eytan Reif, Vorstandsmitglied der „Initiative Religion ist Privatsache“