In The Gap #134 stellt Thomas Weber fest, dass kaum noch jemand lebendige Erinnerungen an Drittes Reich und Zweiten Weltkrieg hat. Recht hat er, wenn er deshalb fordert, die Erinnerungskultur neu zu überdenken. Er stellt die Frage, wie viel Erinnerung wir uns überhaupt noch leisten sollten. It’s as easy as this: viel davon.
Die aktiv am Krieg beteiligten Generationen segnen das Zeitliche und auch der Nachkriegs-Slogan „Niemals vergessen!“ wirkt inzwischen irgendwie historisch. Die Erinnerung an die Zeit vor 1945 verblasst – klar. Doch die Werte, um die es bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geht, die bleiben aktuell – und umstritten.
Eine ritualisierte Erinnerungskultur, bei der das Erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus zur Folklore verkommt, braucht daher kein Mensch. Im Zentrum der Erinnerungskultur müssen Werte stehen. Im Österreich des 21. Jahrhunderts reicht der glühende Antisemitismus eines Karl Lueger offenbar noch immer nicht aus, um erzkonservative Politikerinnen und Politiker davon zu überzeugen, dass der Vorreiter des modernen politischen Antisemitismus in Europa kein guter Namensgeber für eine Prachtstraße der Wiener Innenstadt ist. Das hat die viel zu zähe Debatte um die Umbenennung des Karl-Lueger-Rings gezeigt.
Daran wird deutlich, dass nicht nur die Erinnerung an Nationalsozialismus, Rassenwahn und Völkermord verblasst. Es verblasst auch die Fähigkeit, aktuelle politische Tendenzen, Inhalte, Slogans, mit historischen Ereignissen in Bezug zu setzen. Wo Kränze für die Opfer des Nationalsozialismus niederlegt werden, aber gleichzeitig zeitgenössische Alltagsrassismen und -Antisemitismen geduldet werden, da sollte die Erinnerungskultur natürlich reflektiert und debattiert werden – allerdings nicht aus Ressourcen-Gründen, wie Thomas Weber nahelegt, oder einfach weil die Schuldigen von damals aussterben. Eine aktive Vergangenheitspolitik ohne plumpen Patriotismus und Verklärung ist wichtig. Ohne die reflektierte Auseinandersetzung mit der Geschichte wären auch Demokratie und Menschenrechte bloß intellektuelle Konzepte aus vergangenen Jahrhunderten. Die Beschäftigung mit der Geschichte an Schulen und Universitäten reicht nicht aus, um historische Bildung aufrecht zu erhalten. Historische Bildung muss Wertebildung sein – und die muss der Gesellschaft auch etwas wert sein.
Geschichte prägt Identitäten
Von 2014 bis 2018 wird der Erste Weltkrieg 100 Jahre zurückliegen. Thomas Weber sieht darin einen Anlass, Geschichtsbilder und Erinnerungskultur zu überdenken – Recht hat er. Die Frage, wessen wir wie, wann, wo und wie oft Gedenken wird dabei wohl überall in Europa unterschiedlich beantwortet werden. Dabei wäre es dringend an der Zeit, auch an einer gemeinsamen europäischen Geschichte und Erinnerungskultur zu arbeiten, und Anknüpfungspunkte zwischen den Geschichten verschiedener europäischer Länder zu finden. Davon gibt es reichlich. Trotzdem wird wohl auch zum 100. Jubiläum der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts weiterhin eine jeweils nationale Geschichtsschreibung reproduziert werden. Die Kriegsgewinner werden sich selbst weiter als Kriegsgewinner feiern – soviel lassen Planungen der britischen Regierung schon erkennen, wie der Guardian-Journalist Seumas Milne feststellt – und die Kriegsverlierer von damals werden weiter demütig ihre nationale Schuld bedauern, anstatt gemeinsam an die Fatalität europäischen Imperialismus’ zu erinnern.
Wie Thomas Weber richtigerweise feststellt, schreibt jede Generation ihre eigene Geschichte. Damit prägt eine jede Generation auch immer die Werte, die ihr wichtig sind. Es ist 68 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg an der Zeit, auch gemeinsame europäische Werte geschichtlich zu beleuchten. Das darf jedoch nicht am Erinnern an das Grauen vorbeiführen, das durch die historischen Wertvorstellungen der NS-Ideologie hervorgerufen wurde.
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