Und das soll Kunst sein? Ja, doch, genau das. The Gap sucht für euch jeden Monat eine ganz besondere Arbeit aus der Gegenwart heraus und rahmt sie mit einem Text im Golden Frame. Kein Bullshit – Kunst, Alter!
Heimo Zobernig, Foto von Georg Petermichl
Troll
Wo ist die Kunst? Wo ist die Kunst? Der Biennale-Pavillon selbst? Heimo Zobernig macht den Raum zum Ereignis. Mittlerweile fahren die seltsamsten Menschen auf die Biennale. Nicht nur die Yacht-Besitzer auf Kunst-Shoppingtour, sondern auch Leute, die ansonsten selten ins Museum gehen und beim Kulturteil der TV-Nachrichten auch mal umschalten. Sie sorgen für regelmässige Besucherrekorde in Venedig. Kunst ist hier Event. Die Stadt, das Essen, die Selfies sind oft mindestens so wichtig wie die Zeit in den Ausstellungsräumen. Und diese sind schon wieder einmal voller spektakulärer Apparaturen, begehbareren Installationen, aufwendig gedrehten Videos und schönen, seltsamen, grandios nutzlosen Dingen. Nur Heimo Zobernig trollt. Wenn man den österreichischen Pavillon links hinten am Ende der Giardini betritt, sieht man erst einmal nichts. Schwarzer Boden, schwarze Decke, weiße Säulen, weiße Wände, hinten ein kleiner Garten. Wo ist das Kunst-Zeug? Warum hängt hier kein Bild, läuft kein Video und findet auch kein Aktionsmus statt? Leute schlendern durch den Raum, einige sind schnell wieder weg, andere schauen auf die Tafel, auf der steht, dass hier der Pavillon selbst das Ereignis ist. Heimo Zobernig würde nämlich einen Lokus konstituieren, in dem man verweilen und über die menschliche Präsenz im Raum reflektieren könne. In wenig anderen Texten steht so viel hochgequirlte Scheiße wie in den Beipackzetteln zur Kunst. Aber immerhin sollte damit klar sein, dass es das schon ist. Das ist alles. Der Pavillon. Heimo Zobernig hat ihn umgebaut, die Rundbögen im Inneren hinter dicken, schwarzen Blöcken versteckt, ebenso wie die niedrigen Stufen, die seltsamen Glastüren und hinten raus zum Innenhof die abgewetzten Bodenplatten. Der Innenhof wurde durch die neue, massive Decke deutlich verändert. Vorher war der Pavillon geradlinig, historisierend und leicht verspielt, jetzt wirkt er schlicht und elegant. Und den Raum reflektieren und sich erholen kann man darin ja auch. Heimo Zobernig ist dabei nicht einmal Architekt, sondern arbeitet eher wie ein Bildhauer. Er mag die kleinen und minimalen Gesten, die oft große Wirkung haben. So sagt man. Manchmal haben die kleinen Gesten auch nur kleine Wirkung oder anderes in den Pavillons der Giardini eine größere. Aber egal, auf der Biennale geht es immerhin nicht um nationalen Schwanzvergleich mittels Kunst. Naja, irgendwie schon, aber das führt zu weit. Zobernig ist hier eine zarte Raumskulptur gelungen. Eine, die er demnächst in Bregenz weiterentwickeln wird. Dass er nebenbei die Spielregeln der Biennale, des Marktes und der Kunst einfach trollt und mit seiner Umarbeitung des Ausstellungsraums meta geht, macht diese Skulptur auch noch sympathisch. TEXT Stefan Niederwieser Der Österreich-Pavillon von Heimo Zobernig ist noch bis 22. November auf der Biennale in Venedig zu sehen. Die Ausstellung »Heimo Zobernig« läuft vom 12. November bis 10. Jänner 2016 im Kunsthaus Bregenz. Dort soll eine Weiterentwicklung der Arbeit in Venedig zu sehen sein. Erste Fotos davon gibt es hier.Träume vom Warten – oder (In)somnia
Minderjährig und auf der Flucht vor den somalischen Rebellen. Mohammed war 14 Jahre alt, als er seine Heimatstadt Mogadischu verließ. Er ist einer von mehreren Protagonisten der jüngsten Fotoserie »Brennero/Brenner« des Wiener Fotografen Fabian Kasper, die im Rahmen des Kurses Migration von Tobias Zielony auf der Internationalen Sommerakademie in Salzburg entstanden ist. TEXT Denise Helene Sumi In dem kleinen Ort Brenner, dort am Grenzübergang zwischen Italien und Österreich, wartet man auf Züge. »Für uns ist das einfach ein Ort, für Flüchtlinge eine Hürde«, sagt Fabian. Er kauft einer Frau aus Eritrea Wasser, gibt ihr das noch fehlende Geld für ein Zugticket und gemeinsam mit zwei anderen illegalen Flüchtlingen begeben sie sich in einen Zug, der sie nach München bringen wird. Die Grenzwache stellt unterdessen stichprobenartig die Dublin-III-Verordnung der EU sicher. Die Auseinandersetzung mit diesem realpolitischen Faktum war konzeptueller Ausgang der Fotoserie. Die Lokomotive rollt an und mit ihr die Hoffnung der Flüchtlinge, Italien und manchmal auch die Erinnerungen an die eigene Geschichte hinter sich zu lassen. Mohammed Mohammed (14) gelangte über Libyen, wo er zunächst Tage festgehalten und womöglich buchstäblich gebrandmarkt wurde, mit einem Boot nach Lampedusa. Das zweite Boot und mit ihm seine Freunde kamen nie an. In Österreich wurde er angehalten, kam zunächst in das überfüllte Lager in Traiskirchen und später dann nach Salzburg. Über das Verbleiben seines Vaters, der als freier Journalist zur Zielscheibe der Rebellen wurde, möchte der junge Somalier nicht sprechen. Migration ist kein neues Phänomen, ebenso wenig die Darstellung von Flucht und Vertreibung. Vor beinahe 200 Jahre schuf der französische Salonmaler Théodore Géricault die tragische Darstellung eines Flüchtlingsunglücks im Atlantik. In der Malereitradition des compassio (Mitleid) ist die Darstellung eines Floßes, das auf offener See treibt, ein empathischer Aufruf, der in dramatischer Weise an die Menschlichkeit der französischen Bevölkerung appellieren sollte. Im Gegensatz dazu, so Fabian Kaspar, geht es in seinem Projekt »nicht um eine vordergründig politische Aussage.« Flucht- und Zufluchtsorte Die Fotografien von Fabian Kasper, welche die somalische Männergemeinschaft aus dem Flüchtlingslager in Salzburg zeigen, erzählen nicht offensichtlich von instabilen und prekären Situationen. Gezeigt werden Fluchtorte und gegenwärtige Zufluchtsorte: Parks, Gassen bei Nacht, ein Bett oder die (selbst-)inszenatorische Geste an sich. Ähnlich jener Orte, wie sie auch heimische Jugendliche aufsuchen. Die Bilder rücken die jungen Männer in ein »natürliches« Licht – was tatsächlich auf technischer Ebene der Fotografie zutritt. Ähnlich verschlüsselt wie die teils tragischen Geschichten der Protagonisten sind auch jene Aufnahmen der Serie von menschenleeren Orten: die Ansicht auf einen Bahnsteig, eine Unterführung (ist es wohl derselbe Ort?), ein ungemachtes Bett, ein in rot getauchtes Badezimmerfragment oder eine von Laternen und dem Mond beleuchtete Nachtlandschaft. Es sind Orte ohne konkrete visuelle Zuschreibungen. Migration als Verschiebung Während den menschenleeren Szenen eine gewisse Starrheit und Ruhe innerhalb der Kompositionen zugrunde liegt, verweist die Motivik der Bilder auf Übergänge. Der Bahnsteig als ein Ort der Reise, die Unterführung als ein Durchgang und das Bett als ein Ort des somatischen Rückzugs. Die Darstellungen von Orten und Interieurs beherbergen für die Betrachter assoziative Möglichkeiten. Auslassungen von persönlichen Geschichten, etwa von spezifischen Hoffnungen, Absichten, Wünschen und Ängsten, Beschreibungen von Zuständen der Isolation und des Wartens oder der (Re-)Sozialisierung werden in umgekehrter Logik – gerade durch die Auslassung – als Begrifflichkeiten an die Oberfläche der Fotografie geschwemmt. Die Assoziationen, welche die menschenleeren Szenen eröffnen, können in Folge auch auf die Porträts übertragen werden. Damit reflektiert die Serie »Brennero/Brenner« auch strukturell auf das der Migration zugrunde liegende komplexe Verfahren der Verschiebung und Überlagerung. Am 28. August findet im Rahmen der Salzburger Sommerakademie ein Tag der Offenen Tür statt, mit Arbeiten der Klassen von: Jennifer Allen, Dough Ashford, Cinéma Copains, Adriana Czernin, Tomasz Komwalski, Peter Niedertschneider, Elisabeth Schmirl und Nora Schulz.
Hans Weigand - Bass Player From The 16th Century In A Big Wave
Badass Bass, Madest Max Er reitet auf dem Schicksal, mitten in der Welle, wie im Einklang mit seiner existentiellen Geworfenheit. Dabei hat Hans Weigands Bassspieler sogar die Dramatik von Mad Max vorweg genommen. TEXT Gabriel Roland Die Welt ist außer Kontrolle, sie umtost den Bassspieler, droht ihn zu überspülen. Er wirkt wie ein den grausamen Launen der Welt ausgeliefertes Spielzeug und gleichzeitig wie der im Auge des Sturms ruhende Pol. Wie der Irrsinn, mit dem man all dem anderen Irrsinn begegnen muss. Nein, hier ist nicht von Weigands Bass Player die Rede – nicht nur zumindest –, sondern von Coma the Doof Warrior, dem Kriegsmusikanten in Immortan Joes Diensten aus George Millers Film »Mad Max: Fury Road«. Der Wahnsinn und das Toben Während Coma auf das Dach eines Trucks geschnallt die Lawine aus Stahl, Staub und Gewalt, die der Handlungsstrang von Mad Max ist, auf seiner feuerspeienden Gitarre beschallt, reitet der Bassist aus dem 16. Jahrhundert auf der elementaren Wucht einer Welle. Der Eine ist dem Wahnsinn der Menschen um ihn ausgeliefert, der Andere dem Toben der Natur. Sie spielen beide von der rastlosen Wucht der Fortbewegung getrieben. Und doch scheinen beide dem Trubel, in dessen Mitte sie sich befinden auf seltsame Weise entrückt. Nur die gewaltige Energie, die um die Musiker aufbraust, nehmen sie auf und leiten sie in ihre Instrumente weiter, die zu Katalysatoren ihrer schicksalhaften Gefangenschaft werden.
Im Film können wir die Musik hören, die Coma der brutalen Energie dieses postapokalyptischen Fiebertraums entreißt. Es ist der Hard Rock, der nicht nur Immortan Joes War Boys, sondern auch zahlreiche Soldaten in viel realeren Konflikten in Kampfeslaune versetzt. Das Gemälde hingegen verrät uns nicht, welche Bassline aus der Brandung gemacht wird. Der Surfer bleibt zurückgezogen in der tosenden Laube, die ihm das Meer schafft. Immerhin hat er ja auch kein Publikum und musiziert, wie Coma eigentlich auch, nur für sich – eigentlich: durch, mit und für das gewaltige Toben der Umwelt. Stahlsalat oder Holzschnitt? Die Energie bleibt der Schlüssel: Nicht zuletzt verwenden beide Musiker elektrisch verstärkte Instrumente. Coma hat mit dem Doof Wagon, einem vierachsigen LKW, auf den Verstärker getürmt sind, seine Energiequelle – im physischen wie im metaphysischen Sinn. Der Bassist hingegen kennt keine Elektrizität. Weigand versagt ihm die Stromversorgung, stellt ihm aber reichlich sonstige Energie bei: das Meer und das Holz. In Mad Max leistet die Technologie schon längst nichts mehr für die Zivilisation. Sie dient nur mehr dem frenetischen Überlebensdrang der Einzelnen. Bei Weigand hingegen organisiert das bearbeitete Holz die rand- und bandlose Natur. Es ist das Material des Surfbretts und das der Gitarre, mit denen der holzschnitthaft-stur surfende Bassist aus der Renaissance die Kraft der Wellen verarbeitet. Hans Weigands Bild ist ab dem 17.6. im 21er Haus zu sehen. Eröffnung ist schon am 15.6. ab 19uhr. George Millers Film läuft in den Kinos.
Jörg Sasse – 2729
Anarchie der Bilder
Etwas stört in Jörg Sasses Bildern. Bergpanoramen und Zahlencodes, Kitsch und harte Technik finden hier scheinbar übergangslos zusammen. Die Kunst liegt aber in den Zwischenräumen. TEXT Luise Wolf Mit der Flut der Bilder aufgewachsen, wissen wir erfahrungsgemäß recht schnell, was uns visuell zusagt; was besonders ist und was es X-Mal gibt, was verstaubt und was frisch ist, was geil und was Kitsch ist. Was sagt ihr zu diesem Bergpanorama? Alpenromantik? Postkartenfoto? Oder doch irgendwie arty? Man hat doch das Gefühl, dass sich hier Wirkliches und Unwirkliches, Foto-Realismus und Animation verbinden. Die schwarzen Bergkuppen ziehen sich wie Papp-Schablonen vertikal durchs Bild. Dahinter bricht der Blick förmlich ab, in einen bläulich bis rosafarbenen Hintergrund. Im Kontrast zu dieser Farbromantik erscheinen Details im Vordergrund, wie Schneereste und Bergformationen, doch recht professionell eingefangen und realistisch. Die Grobkörnung der Aufnahme lässt wiederum auf eine einfache Digitalkamera schließen. Was schließen wir daraus? Klassischer Fall von Computerspielerei? Auch. Der Bildkünstler Jörg Sasse benutzt Amateurfotografien und bearbeitet und collagiert sie dann digital. Millionenfach dieselben Motive – Landschaften, Häuser, Idyllen. Darum geht es nicht. An das »Belogenwerden« von Bildern, wie Sasse es ausdrückt, sind wir doch gewöhnt. Denn bei allem, was durch einen Apparat ging, hat ein unüberschaubares System von Kontexten, Akteuren und Techniken mitgewirkt, das Resultat kann nur scheinbar die Wirklichkeit zeigen. In Popmusikvideos wird dies mit Vorliebe in Form von Künstlichkeit überspitzt. Manche gehen schon reflexiver mit dem Medium und seinen Techniken um: seltsame Zeit-Verhältnisse (Arca), Verrückungen von Bildausschnitten (Låpsley) und Symbole, die Bilder werden (oOoOO usw.). »2729« für Bergpanorama Der Künstler spielt mit den Klischees von Motiven wie Bergpanoramen und rosa Himmel und lässt die Brüche zwischen den Collagen dann fast vollständig verschwinden. Was wir glauben zu sehen, ist bei genauerem Hinsehen unwahrscheinlich. Was Sasse dabei reizt, ist die Vorstellung, wir könnten sehen, ohne dass dabei Sprache und Gedanken noch eine Rolle spielten, ein »sehendes Sehen« nennt er das. Der Zustand ist auch mit dem Tanzen in Ekstase oder dem reinen Hören der Wucht eines Basses vergleichbar. Mit so wenig Bedeutung wie möglich kommt deshalb der Bildtitel, »2729«, als vierstelliger Zahlencode daher. Das Bild ist mit Schlagworten versehen, die wirken wie Codes: »Abstrakt«, »Berge«, »Blau«, »Horizontale«, »Schwarz« usw. Bilder könnten doch alles Mögliche bedeuten, wären wir nicht schon so übersättigt mit möglichen Bedeutungen und Assoziationen. Aber eben da, wo sich doch eine Lücke auftut, wo sich etwas nicht mehr erklärt, wie üblich, liege die »Anarchie der Bilder«, so Sasse, ihr Potenzial, das eigentlich unendlich sei. So nahe beieinander liegen hier Bergpanoramen und Anarchie. Unvorhersehbar soll die Kunst ja sein. Das denkt auch Sasse. Er meint es aber nicht romantisch, im Gegenteil. Er stellt sich die Medienwelt – mit einem Hang zu einschlägigen Medientheoretikern – als Netzwerk vor, das von »Rückkopplungen chaotischer oder zufälliger Ereignisse« geprägt ist. Kunst tauche hier und da auf und verschwinde wieder. Sie zeige, wo es eigentlich hingeht. »Insider« würden diesen Mehrwert in der Datenflut erkennen. Ihr wisst schon. Im Originalformat ist diese Arbeit in der Ausstellung »Landscape in my Mind – Landschaftsfotografie heute: Von Hamish Fulton bis Andreas Gursky« vom 11. Februar bis 26. April im Kunstforum Wien zu sehen.
Katja Novitskova – Dodoli de Luxe Grey (© Jorit Aust)
Träumen Babys bald von elektrischen Schafen Diese Wiegen schaukeln uns eine Zukunft vor, in denen sie Babys vorsingen und den Herzschlag der Mutter imitieren können. Sieht so Kunst für intelligent-automatisierte Morgen aus? Wiegen waren schon in antiken Kulturen in Gebrauch, um Kinder in den Schlaf zu schaukeln. Anlässlich der Geburt von Kronprinz Rudolph schenkte die österreichische Bevölkerung dem K.u.k.-Paar eine filigrane Wiege aus Holz, die heute im Hofmobiliendepot zu den wertvollsten Sammlungsstücken zählt. Als klassischer Gebrauchsgegenstand unterlag die Wiege immer dem Design ihrer Zeit. Katja Novitskovas Arbeit "Dodoli de Luxe Grey" ist ein zeitgemäßes Zukunftsmodell einer Babyschaukel. Sie kann auch den Herzschlag der Mutter nachahmen und Kinderlieder singen. Novitskova befreit den Gegenstand von seiner Verkleidung. Dadurch wird er zum Gerippe, zum Kern einer Zukunftsversion. Die vollwertige Warenästhetik der Wiege geht verloren, ebenso das ansprechende Design. Übrig bleibt nur noch der in die Kunst überführte, nackte Gegenstand. Anders als bei Hiroshi Ishiguros Androiden, die täuschend nahe den Menschen imitieren und sogar in der Lage sind, mit diesem zu interagieren, ist Novitskovas Wiege so etwas wie ein Artefakt der Zukunft. In einer größeren Installation arrangiert sie mehrere Wiegen und bringt daran unterschiedliche Gegenstände an, die bunt, kindlich und synthetisch wirken. Der so entstandene Raum wirkt wie eine Kinderkrippe der Zukunft, kurz nachdem die Eltern ihre Kinder abgeholt haben und der Raum wieder leer ist. Das Web als Ausgrabungsstätte Neben den auf der Wiege aufgetragenen grünen Schlangenlinien, die oft wie Beschmierungen wirken, finden sich in Novitskajas Repertoire immer wieder längliche rote Linien und Formen, etwa auf Plastikfolien, die wie Wachstumspfeile aussehen. In der Arbeit "Nostalgia" geben ikonenhafte Figuren, wie man sie aus Grafiken aus den 1990er Jahren kennt, die Illusion von dauerhaftem Wachstum, der Fortschrittsglaube selbst wird zur Nostalgie. Die Ideologie verbirgt sich in der virtuellen oder manifesten Form und ihrer Erinnerung. Mit diesen Formen und Bildern und den ihnen anhaftenden Informationen spielt Novitskova, die Semiotik und Kulturwissenschaften studiert hat. Novitskova geht es darum, wie die Neuen Medien die Welt und die Kultur neu definieren. Für die Künstlerin ist das Web der wichtigste Fundus, den sie als Ausgrabungsstätte benutzt, um Formen, Formate und Kontexte zu ergründen. Aus virtuelle Gegenständen werden Objekte und Installationen. Sie vermittelt zwischen virtuellem und materiellem Gegenstand. Für Webuser manifestieren sich Gegenstände aus dem Internet in der Regel nur über einen Online-Bestellvorgang oder einen Druckvorgang. Diese beiden Prinzipien wendet auch die Künstlerin an. Novitskovas Arbeitsweise lässt zu, dass sich Offline- und Online-Medien verbinden, sich überlagern und eine Klammer darstellen. So hat sie etwa Tierbilder aus dem Internet auf Papyrus gedruckt und damit eine Art Bestiarium erstellt, gleichzeitig greift sie dabei auf eines der ältesten Trägermedien zurück. Die Wiege, einer der ältesten Gebrauchsgegenstände der Menschheit, erhält eine Robo-Ästhetik, ohne zum Sci-Fi-Genre-Gegenstand zu verkommen. Vielmehr bleibt sie ein Verweis auf ein Formenvokabular, das die Künstlerin permanent aus dem Web heraus übersetzt.
Katja Novitskova ist 1984 in Tallinn, Estland, geboren und lebt in Amsterdam. Sie wird von der Gallerie Kraupa-Tuskany-Zeidler in Berlin vertreten. Mehrere ihrer Arbeiten, darunter auch "Dodoli de Luxe Grey" aus dem Jahr 2014, sind derzeit in der Ausstellung "The Future of Memory" in der Kunsthalle Wien noch bis 29. März zu sehen.
Weitere Golden Frames aus früheren Jahre kann man sich hier ansehen:
2011: www.thegap.at/kunststories/artikel/goldene-seiten
2012: www.thegap.at/kunststories/artikel/goldene-seiten-2
2013: www.thegap.at/kunststories/artikel/goldene-seiten-3
2014: www.thegap.at/kunststories/artikel/goldene-seiten-4