Sandra Gugić schickt eine Fotografin auf Herbergs- und Motivsuche. Das löst einiges aus. Eine Kurzgeschichte die zeigt, warum die Wienerin zu den spannendsten neuen Erzählstimmen gehört.
Gefällt es Ihnen? Ich stehe vor einem Fenster, mein Blick stellt die Umgebung langsam scharf, erst das Draußen: Asphalt, dahinter Grün, ein weitläufiger Park, eine Joggerin schlüpft tänzelnd durch das Eingangstor, irgendwo hinter dem Park soll ein See liegen. Dann das Drinnen: Zimmerpflanzen vor dem Fenster, die ihre Blätter und Luftwurzeln ins Licht strecken, rechts davon, an der Wand, eine Reproduktion der Dame mit dem Hermelin. Ich drehe mich um, wende mich der Stimme zu. Es ist die Frau, die mir vorhin die Tür geöffnet hat. Ihre rotblonden Haare sind so straff nach hinten gebunden, dass die Haut einen Tick zu fest über die Stirn gespannt scheint, ihre rechte Hand nestelt nervös an einer kleinen Perlenkette, die sie an der linken trägt, sie mustert mich mit leicht zusammengekniffenen Augen, als wäre ich selbst in eine Unschärfe gerutscht, während ein kleiner roter Fussel von irgendwo an der Decke auf sie hinuntersegelt, um anschließend auf ihrem perfekt gebügelten Kragen zu landen. Das Zimmer, gefällt es Ihnen? Erst jetzt ist der Inhalt ihrer Frage bei mir angekommen. Ich lächle und nicke schnell. Ich nehme es. Die Frau lächelt zurück, zeigt dabei alle Zähne, sogar etwas Zahnfleisch, und ich stelle mir sie mit einem Hermelin im Arm vor.
Ich bleibe nie lange. Meine Habseligkeiten passen in einen großen blauen Koffer aus Polykarbonat sowie einen stabilen Rucksack für Laptop, Kamera und Stativ. Das Zimmer der Frau beziehe ich für zwei Monate und lebe zwischen ihren Elfen aus Speckstein, Setzkästen voller Porzellanfiguren und venezianischen Masken. Da die Frau in dieser Zeit auf Geschäftsreise ist, habe ich die Wohnung für mich allein. Manchmal streife ich durch die anderen Zimmer, betrachte all die akribisch platzierten Dinge, versuche mir jedes Detail einzuprägen, ich berühre kaum etwas und verändere nichts, nur die Porzellanpuppe auf dem Sims im Wohnzimmer, deren Augen mir zu folgen scheinen, egal wo im Raum ich mich gerade befinde, drehe ich mit dem Gesicht zur Wand. Jeden Tag laufe ich die gleiche Strecke durch den Park bis an den See, an dem sich Freitagnachmittags im Viertelstundentakt abenteuerhungrige Menschen von einem Kran auf einer kleinen, notdürftig gesicherten Plattform hoch über das Wasser und die Köpfe der Schaulustigen hieven lassen, um sich nach kurzem Justieren der Position mit einem Schrei, der bei jedem anders klingt, an einem Gummiseil gesichert in die Tiefe zu stürzen, knapp über der Wasseroberfläche kurz auszupendeln und danach kopfüber, manchmal japsend wie ein Stück Schlachtvieh, langsam wieder zu Boden gelassen zu werden. Als ich an diesem Tag im Laufschritt die Straße zum Park quere, ist es, als würde mir ein Blick folgen. Ich verlangsame mein Tempo vor dem Eingangstor, werfe einen Blick zurück, hoch zu den Fenstern der Wohnung, sehe die geschlossenen Vorhänge und kann mich nicht erinnern, sie beim Verlassen des Zimmers zugezogen zu haben, halte einen Moment inne, dann laufe ich weiter. Auf dem Rückweg mache ich einen Umweg über den Markt und kaufe ein gehäutetes Kaninchen. Ich positioniere meine Kamera auf dem Stativ, mich am Fenster, das Kaninchen halte ich wie die /Dame mit dem Hermelin/, die hinter mir an der Wand hängt. Dann drücke ich den Auslöser.
Der Schlüssel des Lofts liegt unter der Fußmatte, der Vermieter ist auf einer Rundreise durch Australien, sein Bruder hat mich via Skype begutachtet und nach Erhalt der Kaution für vertrauenswürdig befunden. An der Wand im Eingangsbereich hängt das einzige Bild, der Mann darauf grinst mit zahnlosem Mund, auf das mittlere Glied seines Zeigefingers sind Versal und zittrig die Buchstaben V E tätowiert, an der gleichen Stelle auf seinem Mittelfinger L O, die beiden Finger hat er gekreuzt und hält dem Betrachter seinen Handrücken entgegen, unter dem Bild steht: Junger Mann, undatiert. Ich stelle mein Gepäck davor ab, um den Raum, den ich nur von meinem Bildschirm kenne, abzuschreiten, ich bewege mich vorsichtig, wie auf ungesichertem Terrain, vergleiche den Raum mit meiner Erinnerung: Auf dem Bett liegt die gleiche rote Tagesdecke, links davon steht das abgewetzte Ledersofa neben einer Bogenlampe aus den 60er Jahren, in der Mitte eine offene Küche, die mir kleiner vorkommt, der Schreibtisch hingegen wirkt noch massiver, über dem Drehstuhl hängt ein verschlissenes Kuhfell, das in meiner Erinnerung fehlt, ebenso wie die Fototapete dahinter, auf der eine lange Reihe Birken zu sehen sind. Als ich mich auf das Sofa fallen lasse, rutscht der Schlüssel aus meiner Hosentasche und zwischen die Polster. Meine suchende Hand greift ins Leere. Ein kleiner Stich, eine Schrecksekunde wie der Moment, in dem sich die Zugtüren mit einem Signalton schließen und man nicht mehr weiß, wo man ist oder wo man hinwollte, welcher Tag und welche Zeit es ist. Aber dann ertaste ich einen Widerstand, keinen doppelten Boden, und der Schlüssel ist wieder da. Gemeinsam mit ihm ziehe ich ein dünnes Kettchen mit einem Medaillon als Anhänger heraus. Ich fahre mit den Fingerkuppen über die verkratzte Gravur, klappe das Medaillon vorsichtig auf. Eine junge Frau mit kurzen, dunklen Haaren, ein schmales Gesicht, ihre Züge wirken angespannt, ihr Hals ist sehr schlank, auch die Schlüsselbeine treten deutlich hervor, helle Augen sehen mich an, der Blick erwartungsvoll, sie lächelt nicht. Als ich an diesem Abend ausgehe, trage ich das Medaillon.
Wen trägst du bei dir? Der Mann auf dem Barhocker neben mir deutet auf den Anhänger. Niemanden, sage ich.