Vince Aletti war der erste Autor, der über Disco berichtete – und den DJ als Künstler verstand. Der Chronist der Ära über Aufstieg und Fall einer der bis heute einflussreichsten Formen moderner Tanzmusik.
Als Vince Aletti 1973 im Rolling Stone als erster Journalist über New Yorks aufkeimende Disco-Bewegung schrieb, war es eine Szene weniger Eingeweihter. Wenige Jahre später explodierte Disco und wurde zum Massenphänomen. In seiner Kolumne „Disco Files“, die er 1974 bis 1978 allwöchentlich für das Branchenmagazin „Record World“ verfasste, dokumentierte Aletti die Entwicklung von Disco – und nahm viel von dem vorweg, was später als Clubkultur rezipiert werden sollte. Heute gesammelt als Buch verfügbar, sind seine Texte nicht weniger als die Chronik einer Ära, die seit einigen Jahren mit Acts wie Metro Area, Hercules & Love Affair oder zuletzt Tensnake eine Renaissance erfährt.
Wie fühlte sich das geheime Paralleluniversum Disco an, als Sie es erstmals betraten?
Es fühlte sich sehr privat an, sehr Underground. Das war 1972. Es gab zu dieser Zeit zwei Arten von Nightclubs: populäre Clubs, über die in Lifestyle-Magazinen berichtet wurde, und diejenigen, die mich beeindruckten, Clubs wie David Mancusos „The Loft“. Kleiner und intimer, nur für Mitglieder, nur einen Abend pro Woche offen. Sie wurden wie Privatpartys betrieben und waren in der Öffentlichkeit völlig unbekannt. Ich hörte Musik, die ich noch nie zuvor gehört hatte – und in einer Art und Weise, die mir völlig neu war.
Zusammengefügt und -gemixt von einem DJ.
Ja, es war die Art, wie die DJs die Platten mixten und einen ganzen Abend daraus machten, mit vielen Gipfeln und Tälern. Mit Emotionen, Dynamik und einem ganz neuen Fluss.
Als einer der ersten Autoren, wenn nicht der erste, verstanden Sie den DJ als Künstler. Sie schrieben: „Die wirklichen Stars sind nicht auf den Platten, sie drehen sie.“
Ich begriff schnell, dass das der Fall war. Aus meiner Sicht waren es die DJs, die Disco kreierten. Sie entwickelten den übergreifenden Sound, der später als Disco identifiziert und bekannt wurde. DJs waren Künstler, die ihre Musik von innen verstanden und dem Publikum in einer neuen Form zugänglich machen konnten. Klar, es gab Produzenten, die Disco-Platten machten. Und ab einem gewissen Punkt generierte Disco eine Reihe von Stars: Gloria Gaynor, Donna Summer, Barry White. Ohne die DJs, die in der breiten Öffentlichkeit unbekannt blieben, wäre ihr Aufstieg aber undenkbar gewesen.
Was waren die größten, anhaltenden Errungenschaften der frühen Disco-DJs?
Ganz einfach ausgedrückt: Es war die Idee und die Kreativität zu verstehen, wie ein Song in einen anderen überfließen kann. Sei es anhand des Beats oder anhand der Emotion eines Songs. Die Fähigkeit, diese Dinge zu hören und diese Verbindungen herzustellen war einzigartig und ist weiterhin einer der wichtigsten Aspekte, die ein DJ beherrschen muss. Es geht nicht nur darum, Beats zu abzugleichen, es geht auch darum, Emotionen und Gefühle zu transportieren.
Glauben Sie, dass diese Fertigkeiten über die Jahre verloren gingen?
Nein. Das sollte zum Standardrepertoire jedes DJs gehören. Aber klar, nicht jeder macht das. Nicht jeder ist gut darin. Und heutzutage steckt viel weniger Emotion in der Musik als damals.
Clubmusik ist heute über weite Strecke sehr funktionell.
Exakt. Ich gehe bei weitem nicht mehr so oft in Clubs wie ich es in den Siebzigern gewohnt war. Aber mein Eindruck ist, dass viel weniger Songs mit Lyrics und Botschaften gespielt werden, viel weniger Songs an sich. Zu meiner Zeit war es zentral, dass der DJ nicht nur die Musik verstand, sondern auch, was die Songs erzählten, worum es in den Songs ging. Die besten DJs, jene, denen ich mich verbunden fühlte, verstanden es, mit ihren Stücken eine Botschaft zu entwickeln. Und diese war zumeist euphorisch, optimistisch, positiv, lebensbejahend. Ich denke, die besten DJs haben wirklich verstanden und verinnerlicht, worum es in den Songs ging. Und mir ging es oft so, dass ich einen Song am besten verstand, wenn ich am Dancefloor war und dazu tanzte.
Sie haben bereits David Mancuso und seinen Club „The Loft“ erwähnt. Es heißt, er habe es zur Perfektion gebracht, mit seinen DJ-Sets Botschaften zu vermitteln und positive Vibes zu erzeugen.
Ich muss zugeben: Er hat mich indoktriniert. Sein Club legte die Latte für alle anderen hoch, sehr hoch. Ich liebte es, wie er seine Botschaft entwickelte, den Dancefloor zum Freudenfest machte.
Erzählen Sie, wie eine Nacht im „Loft“ war.
Ich war selten ganze Nächte dort. Mein Ausgehverhalten war eher untypisch. Ich ging lieber zu Beginn in einen Club, um Mitternacht oder ein wenig früher, um etwas Zeit in der DJ-Kabine verbringen zu können. Manchmal brachte ich Platten, in der Hoffnung, die DJs würden sie spielen. Aber vor allem ging es mir darum, neue Sachen zu hören, die spielten sie oft früh am Abend. Faszinierend, wie Mancuso den Abend mit jazzigen, atmosphärischen Instrumentalstücken startete und langsam die Spannung aufbaute. Diese Musik spielte er zu keinem anderen Zeitpunkt der Nacht.
Es war seine Art, den Raum mit Energie zu versorgen. Nach und nach spielte er Songs, die man bereits kannte, und kreierte den größeren Spannungsbogen des Abends. Er entwickelte eine Botschaft: euphorisch, optimistisch, positiv, lebensbejahend. Ich liebte es zu sehen, wie sich der Dancefloor langsam füllte und die Ersten zu tanzen begannen. Das war auch für mich die beste Zeit zu tanzen, weil es noch nicht so gedrängt voll war. Ich ging üblicherweise um drei Uhr morgens, wenn viele meiner Kumpels erst kamen.
Wie war das Publikum im „Loft“? War es ein Schnappschuss dessen, was in New York zu diesem Zeitpunkt vor sich ging?
In gewisser Weise ja. Gleichzeitig wählte Mancuso das Publikum sehr bewusst aus. Es war sehr multikulturell, was damals nicht in allen Clubs üblich war. Es gab gemischte Clubs, aber viele hatten ein ganz bestimmtes Publikum: Clubs für junge Latinos, schwarze Clubs, schwule Clubs, von „Saturday Night Fever“ inspirierte Clubs. Die Mischung im „Loft“ war einzigartig. Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher sexueller Orientierung, unterschiedlichsten Alters. Es fühlte sich wirklich wie ein Schmelztiegel an.
Ahnten Sie von Beginn weg, dass es sich bei Disco um keine kurzzeitige Modeerscheinung handeln würde?
Ehrlich gesagt: Nein. Die Musik fand in den Clubs schon für drei oder vier Jahre statt, als ich über Disco zu schreiben begann. Als meine Kolumne 1973 startete, waren etwa „Love‘s Theme“ von Barry White und andere Songs, die aus den Clubs kamen, hochplatziert in den US-Charts. Und bevor diese Stücke ins Radio kamen, liefen sie in den Clubs oft schon monatelang rauf und runter. Für mich war klar, dass da etwas Substanzielles war. Aber ich hätte niemals „Saturday Night Fever“ vorausgeahnt. Oder den Erfolg von Donna Summer. Oder dass eine 15-minütige Platte ins Radio kommen könnte.
Sie waren der erste Musikjournalist, der sich ernsthaft mit dieser neuen Subkultur auseinandersetzte. Warum hat das zu Beginn sonst niemand getan?
Die meisten anderen Kritiker gingen nicht tanzen. Das war aus meiner Sicht aber der Schlüssel, um diese Musik wirklich verstehen zu können. Viele Kritiker waren an dieser Form schwarzer Popmusik einfach nicht interessiert. Stevie Wonder, Issac Hayes oder Aretha Franklin, ja. Aber Rockkritiker interessierten sich kaum für schwarze Popmusik. Und Disco war total Pop.
Sie hatten also einen Wettbewerbsvorteil, weil sie Tanzen gingen?
Ja. (lacht). Viele Disco-Platten brauchen die Erfahrung auf der Tanzfläche und bedeuten vergleichsweise wenig, wenn man sie zuhause auflegt. Tanzen war ausschlaggebend für das Erlebnis. Ohne diese Komponente verpasst man einiges.
Wie war Ihr Verhältnis zu den Plattenfirmen? Die hatten doch sicher großes Interesse daran, ihre Platten in der Kolumne unterzubringen.
Sie drängten mich andauernd, ihre neuen Platten zu erwähnen. Aber wenn ich sie nicht mochte, tat ich das nicht. Und das respektierten sie ab einem gewissen Zeitpunkt. Mein Job war es nicht, die neusten Veröffentlichungen aufzulisten. Mein Job war es, Platten zu besprechen und meine Meinung abzugeben. Viele Plattenfirmen waren unglücklich mit mir, weil ich viele Dinge ignorierte. Aber gleichzeitig wussten sie, wenn ich über etwas schrieb, dann hatte das einen positiven Effekt. Zu Beginn waren die Plattenfirmen sehr skeptisch. Sie warfen Disco zwar Geld hinterher, weil sie sahen, dass es immer wieder Hits gab. Aber sie verstanden Disco nicht, sie verstanden nicht, wo Disco herkam. Und sie hatten keine Ahnung, wie sie Disco vermarkten sollten. Es war eine seltsame Situation: Sie wollten einen Markt ansprechen, den sie nicht kannten und verstanden. Das änderte sich erst, als sie Promoter direkt aus der Szene anwarben.
DJs hatten die Macht, Platten groß zu machen.
Das hatten sie. Und das war der Grund, warum das alles passierte. Ich hätte wohl keine Kolumne bekommen, wenn „Record World“, das Magazin, in dem sie erschienen, nicht an die DJs als Publikum gedacht hätte. Die Plattenfirmen erkannten rasch, dass eine Platte, die wirklich groß in den Clubs war, ins Radio kommen konnte. Und genau das war es, was sie wollten. Über die Club-DJs konnten sie indirekt die Radio-DJs erreichen.
In der Anfangsphase, als Disco noch nicht Disco hieß, hing es vom DJ ab, welche Platten er selektierte. Funk, Latin, Afrobeat, Jazz – alles war möglich. Erst später wurden Platten produziert, die gezielt für die Clubs gedacht waren. Wie vollzog sich dieser Wandel?
Schrittweise. Als die Plattenfirmen den DJs genauer zuhörten, begannen sie Platten eigens für diese Zielgruppe zu produzieren. Zunächst waren es kleine, unabhängige Labels, die Disco in bester Grassroots-Manier verstanden – und später als Schablone für die großen Labels dienten. Die Labels engagierten Leute, um Disco-Mixe und –Versions bekannter Songs zu machen. Die Labels sahen einen Markt, den sie bedienen konnten. Es waren aber die DJs, die ihnen klar machten, was sie wollten und brauchten – und dass in ihrem Repertoire bereits passende Musik vorhanden war.
Wie haben Sie auf die elektronische „Maschinenmusik“ reagiert, die mit Donna Summer und Giorgio Moroder in der Disco ankam?
Und Kraftwerk, die waren ja noch früher dran und haben den Weg dafür geebnet.
Wurde Kraftwerk in den Clubs gespielt?
Ja, „Trans Europe Express“ war riesig. Aber um auf die Frage zurückzukommen: Ich war aufgeregt. Und ich glaube die meisten Leute waren das. Weil es anders war. Die Musik war etwas austauschbar geworden, es gab lange keinen neuen Sound mehr. Und Donna Summer war definitiv ein neuer Sound. „I Feel Love“ war ein großer Moment des Wandels, auch die Sachen von Moroder selbst. Das hat alles verändert, was danach kam. Dieser elektronische Sound wurde regelrecht absorbiert.
Wurde dieser Sound aber nicht auch zu einer Art Formel, wie Disco fortan zu klingen hatte?
Ja. Dieser Sound war so erfolgreich, dass er von jedem imitiert wurde und das war, was sich die Leute unter Disco vorstellten. Er wurde zu Disco. Mein Problem damit war, dass dadurch die ganze Bewegung und die Musik auf diesen Sound reduziert wurden. Es gab damals diese unglaubliche breite Palette an verrückter und interessanter Musik. Aber die meisten Leute dachten nur: Donna Summer, Giorgio Moroder, das ist Disco. Dieser Sound wurde bald formelhaft und so viel zu leicht abzulehnen.
Kritiker meinten, dass Disco seine Wurzeln in der Black Music verneinen würde. War dieser synthetische Sound, für den Summer und Moroder standen, ein besonderer Auslöser für diese Einschätzung?
Nein, das sagten sie immer schon. Eurodisco wie von Donna Summer hätte ohne Philadelphia International mit Acts wie The O‘Jays, worin ich die Wurzeln von Disco sehe, nicht passieren können. Das war eine natürliche Evolution. Aber viele Rockkritiker haben diese Form schwarzer Pop-Musik nicht ernst genommen. Für sie galt nur Funk oder Aretha Franklin. Das war sehr kurzsichtig und hat 80 Prozent der damaligen Musik einfach ausgeblendet. Der Blickwinkel vieler Kritiker auf Black Music war sehr begrenzt. Vielen von ihnen verachteten auch Motown komplett. Und Motown zählte ohne Frage zu der besten Musik dieser Zeit.
Etablierte Acts wie Kiss, die Rolling Stones oder Rod Steward begannen in der Disco-Hochblüte plötzlich auch Disco-Nummern zu veröffentlichten. Wie fanden Sie das?
Es begann schon sehr früh. Es gab viele wirklich lächerliche Versuche, auf den Zug aufzuspringen. „Miss You“ von den Stones hingegen war ein legitimes Unterfangen. Sie verstanden die Musik und haben sie soweit absorbiert, um eine wirklich gute Platte aufzunehmen. Rod Stewards „Da Ya Think I’m Sexy“ war gewiss ein guter Popsong, aber im Versuch an Disco anzuknüpfen keineswegs glaubwürdig.
(Fortsetzung und Teil Zwei des Interviews gibt es hier.)
Vince Aletti, Jahrgang 1945, schrieb von 1974 bis 1978 in seiner Kolumne »Disco Files« wöchentlich über neue Platten, Clubs und DJs. Später arbeitete er als A&R-Manager beim Disco-Label RFC. Heute ist er Fotokritiker des Magazins »The New Yorker« und kuratiert Fotoaustellungen. Das Buch »Disco Files 1973-78« (erschienen bei DJ History) versammelt alle seine Kolumnen und frühen Artikel über Disco.