Sag alles ab
Diedrichsen widerruft sein 82er-Pop-Modell der Scheinaffirmation und zieht sich zurück.
Wenn es mittlerweile auch andere Kirchen oder Atheisten gibt, die Enzykliken des Bischofs von Rom lesen dann doch alle und so verhält es sich auch mit den Wortmeldungen von Popdiskurshoheit Diederichsen, was a priori schon Anschaffung und Lektüre von „Eigenblutdoping“ nötig macht. Die aus einer Vortragsreihe für den Hamburger Kunstverein hervorgegangene Publikation spiegelt den veränderten Interessensbereich des Theoretikers. Nicht mehr Popmusik, sondern vor allem Bildende Kunst bildet den Ausgangspunkt für seine Ausführungen, denen ihr aus dem Frühwerk bekannter Hang zur apodiktischen Erklärung von nie weniger als allem jedoch erhalten geblieben ist. Wenngleich natürlich nicht jede weitere Veröffentlichung die Strahlkraft von „Sexbeat“ haben kann, so waren und sind Diederichsen-Bücher immer potentielle Kandidaten für Bücher, nach deren Lektüre man möglicherweise nicht mehr derselbe ist. Mit Abstrichen lässt sich dies auch für „Eigenblutdoping“ behaupten. Keine leichte Kost ist die voraussetzungsreiche Argumentation, kein Kessel Buntes die breit gestreute Themenpalette (Handyklingeltöne, Gegenwartskunst, Sturm und Drang etc.), deren roter Faden die Kritik an der Verpersonalisierung von Kunst wie der gegenwärtigen Gesellschaft ist. Die These, dass in der Kunst wie der Gesellschaft ein Trend zur kapitalistischen Verwertung der Subjektivität (statt wie früher Künstler Kunstwerke oder Menschen Waren muss heute jede/r vor allem sich selbst verkaufen: ein anständiges Myspace-Profil, individuelle Klingeltöne und sexy Authentizität muss schon sein) zu beobachten ist, entwickelt Diederichsen nicht im Tonfall des Grumpy Old Man. Dialektische Prozesse, wie der, dass Befreiung von Zwängen immer auch die gegenläufige Tendenz zum neoliberalen Imperativ der kreativen Selbstverwirklichung mit sich bringt, werden dialektisch beschrieben: Die Rückkehr zur Disziplinargesellschaft kann es nicht sein, der Gedanke „Sei du selbst, werde ein Star“ der Castingshows aber auch nicht. So gelingt Diederichsen ein kritischer, aber nicht kulturpessimistischer Blick auf die Gegenwart. Darin liegt wohl auch die größte Stärke von „Eigenblutdoping“: Statt zu meckern zeigt hier jemand, wie viel und auf welchem Niveau sich zu Pop und der Welt denken lässt und wie viel daran falsch läuft. Wäre es nicht paradox, ein Plädoyer dafür, dabei nicht mehr mitzumachen, davon nicht mehr begeistert zu sein, zu empfehlen, würde ich „Eigenblutdoping“ empfehlen.