Wer wollte nicht schon einmal eine Expedition durch den Dschungel machen? Einen Regenwald gibt es in Wien zwar nicht, dafür aber ein Theaterhaus, in dem es mindestens genauso wild zugeht – besonders in der neuen Saison.
Aus roher Masse etwas formen – wie eine Skulptur aus Ton – so arbeitet Corinne Eckenstein, 53. Sie ist Regisseurin und Tänzerin, Produzentin und Schauspielerin und mit der Spielzeit 2016/17 die neue Intendantin des Dschungel Wien. Als Theater für junge Menschen versteht sich dieser, vor allem aber als eine Stätte Kreativer für Kreative: »Am Dschungel werden die Stücke gemeinsam erarbeitet.« Dieser Umstand ist der gebürtigen Schweizerin wichtig, denn Jugendtheater wird gerne auf Pädagogik reduziert. So möchte sie die Sicht auf diese Form von Schauspiel ändern: »Ich will die Neugierde der Menschen erwecken und zeigen, dass Jugendtheater ein gesellschaftspolitischer Raum ist.«
Den eigenen Körper erfahren
Seit Jahren arbeitet Eckenstein in ihren Produktionen daran. Vor allem mit ihrer »Boys«-Trilogie (2012-2015) konnte sie Erfolge verzeichnen. In »Boys Don’t Cry« (2012) macht sie mit Klischees reinen Tisch und zeigt, dass Jungs sehr wohl weinen und tanzen dürfen. Sex ist ein Thema, das nicht behandelt werden soll, sondern muss. Eigenwillig stellen viele ihrer Stücke »Self-Empowerment« dar und zeigen, dass es gut ist, anders zu sein. Das Erfahren des eigenen Körpers steht dabei häufig im Zentrum. Buben und Mädchen aus allen Altersstufen, mit und ohne migrantischem Hintergrund, dick oder dünn, singen, springen, tanzen oder rollen (Adil sitzt im Rollstuhl und gehört mittlerweile zum Kernteam) durch den Raum. Ob sie darauf achte? »Woanders wird das Integration genannt, für mich ist das selbstverständlich.« Die Handlungsstränge verlaufen selten linear, aber die Themen – Unsicherheit, Liebe, Sex, Beziehungen, Träume, Enttäuschungen – sind greifbar. Sie provoziert dabei gerade so viel wie nötig, zeigt schon mal nackte Körper im Jugendtheater. Doch das geschieht mit einer Ehrlichkeit, an der man sich gar nicht stoßen kann.
Gemeinsam auf Entdeckungsreise …
Dabei arbeitet die ehemalige Tänzerin ohne Drehbuch und mit viel Improvisation: »Ich gebe etwas vor, aber wohin es geht, weiß ich nicht.« Ihr gefällt »das Unfertige« an den jungen Menschen, »dieses Rohe«: »Ich mag es überhaupt nicht, wenn etwas auf der Bühne zu glatt und vorgefertigt ist. Ich möchte gemeinsam mit Menschen etwas entdecken.« Das fängt bei den Castings an. Nur zum Teil arbeitet sie mit professionellen Darstellern: »Bewegung und Tanz ist ein Lebensgefühl, das sich nicht in Worten ausdrücken lässt.«
»Räume öffnen« lautet auch das Dschungel-Spielzeitmotto 2016/17, »physisch, emotional, intellektuell«. In einer Kombination aus Choreografie und Schauspiel gibt das Eröffnungsstück »Running Wild« Einblick in die Zwischenwelt von Kindsein und Erwachsenenwerden. Inspiration war Corinnes 13-jähriger Sohn Lino. Als eines Tages die »heiligen« Kuscheltiere in Müllsäcken vor der Zimmertür standen, war die Mutter verdutzt: »In welcher Welt lebt man da?« Diese gilt es gemeinsam mit den Schauspielerinnen und Schauspielern (11 bis 13 Jahre) zu entdecken. Im Raum hängen Riesenschaukeln. Auch er ist in Aufruhr, bleibt in Bewegung. Corinne spricht mit den Kindern darüber, was sie beschäftigt: „Was sie zu sagen haben, ist wichtig.“
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Alles Kinderteller?
Auf der Bühne kommen sie zu Wort: »Wenn man in einem Theater wie dem Dschungel arbeitet, hat man automatisch eine gesellschaftspolitische Aufgabe.« Der offene Dialog auf und abseits der Bühne ist dabei die treibende Kraft, denn »dort werden die eigenen Vorurteile verrutscht.« Für sie ist es daher unbegreiflich, dass gerade im Jugendbereich immer zuerst gespart wird. Auch am Dschungel sind die Gehälter niedrig, der Eintritt günstig: »Irgendwie ist das alles Kinderteller«. Dabei sei es doch gerade hier so wichtig aktiv zu sein, gerade jetzt, wo sich ein Graben in der Gesellschaft auftut.
Im Dschungel jedenfalls hat sie nun die Möglichkeit zur Veränderung. Dort führt die neue Direktorin die Schiene 16+ ein, bei der auch politische Themen diskutiert werden. Eine Adaption von Darja Stockers »Nirgends in Frieden. Antigone« behandelt den arabischen Frühling und seine Auswirkungen. Auch zum Mitmachen wird aufgefordert: »Put on the Red Shoes« bietet eine Open Stage für junge Künstler und ihre musikalischen, akrobatischen oder lyrischen Werke, Tänzerinnen und Performer werden in »Try Out« eigene Stücke vorstellen und »Wildwechsel« bietet eine Theaterwerkstatt für alle ab 16 Jahren.
Rennend, tanzend und schreiend leiten Corinne und ihr wildes Ensemble eine neue Saison in diesem Dschungel der Stadtmitte ein und drehen den Spieß um: Eine von der Gesellschaft gehetzte Jugend macht im Museumsquartier, »diesem Inbegriff von elitärer Hochkultur«, Jagd auf das Konventionelle in Theater und Kultur.
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Regisseurin Claudia Seigmann über ihren Performance-Parcours »Quartier 2030« für die Eröffnung der Dschungel Spielsaison 2016/17.
Müll als Ressource und die Stadt als Erlebnis. Im »Quartier 2030« ist es egal, woher du kommst, wie alt du bist, oder was du tust. Hier werden die Karten neu verteilt – und zwar gemeinsam. Mit einem Ensemble, bestehend aus Profis und Laien, zeigen Claudia Seigmann und ihr Team den Weg in die Zukunft.
Was ist der Ausgangspunkt von »Quartier 2030«?
Das Thema Stadt und wie junge Menschen diese miteinander erleben. Wir beziehen alle dieses Quartier, diese Stadt neu. Die Frage, »Woher kommst du?«, wird nicht mehr gestellt. Wir gehen von einem selbstverständlichen Miteinander aus.
Welche Kernthemen werden behandelt?
Wir setzen uns mit der Zukunft im Jahr 2030 auseinander: Wie gehen wir Ressourcen, mit Müll, mit der Umwelt und schließlich miteinander um?
Wie kann man sich den Entstehungsprozess vorstellen?
Über die anfänglichen Denkräume sind wir zu Möglichkeits- und schlussendlich zu Handlungsräumen gelangt. Zum Beispiel haben wir als Gruppe versucht, uns nur auf positive Nachrichten in den Medien zu konzentrieren. Wir haben plötzlich eine Alternative zu den verunmöglichenden Perspektiven gesehen, die uns täglich vor Augen gehalten werden. Dieses selbstermächtigende Gefühl versuchen wir dem Publikum zu vermitteln.
Ihr habt das Stück in der Gruppe erarbeitet. Wie liefen die Proben ab?
Es gab sehr viel inhaltliches Arbeiten, viel gemeinsames Nachdenken und Improvisation. Zum Beispiel haben wir unseren Müll gesammelt oder eine Facebookgruppe für positive Nachrichten erstellt.
Ihr nennt die Performance einen Parcours. Wie kann man sich das vorstellen?
Das Publikum bewegt sich durch Ecken und Plätze im Museumsquartier. An unterschiedlichsten Stationen teilen wir unsere Erfahrungen mit dem Publikum und beziehen es zum Teil mit ein.
Wie sieht das Jahr 2030 aus?
Sehr positiv. So erkennen wir zum Beispiel, dass Müll unsere Ressource ist. Das ist auch auf der Requisiten- und Kostümebene zu erleben.
Gibt es irre Erfindungen?
Klar. Hier an den Museen gibt es Vorrichtungen, wo du dich hinsetzen kannst. Dabei wird deine Körperwärme in Energie umgewandelt und direkt dem Museum zugeführt. Dafür bekommst du gratis Eintritt.
Würdest du euren Entwurf als Utopie beschreiben?
Vielleicht als eine sehr reale Utopie, aber eher als eine Beschäftigung mit der nahen Zukunft. Unser Ansatz ist: Die Zukunft ist jetzt.
»Running Wild« ist noch bis zum 2. Februar im Dschungel Wien zu sehen. Auch die Produktionen »Boys Awakening« und »Blutsschwestern« von Corinne Eckenstein stehen wieder auf dem Spielplan. Auch Eckensteins eigene Theatergruppe Theater Foxfire wird unter ihrer Anleitung weiterhin Stücke aufführen. Infos zum Spielplan und den Stücken findet man auf der neuen Dschungel-Seite www.dschungelwien.at