David Fuchs ist Palliativmediziner und preisgekrönter Autor. In seinem neusten Roman »Zwischen Mauern« wirft Fuchs einen Blick hinter die Mauern einer in die Jahre gekommenen Pflegeeinrichtung, der dort wirkenden Menschen und eines Berufssektors, welcher sich durch körperliche und geistige Schwerstarbeit auszeichnet. Unverblümt setzt sich der Autor mit grundsätzlichen Fragen des Pflegebetriebs auseinander: Welchen Wert hat die Geschichte der Bewohner*innen? Ist das Pensum an Menschlichkeit begrenzt?
Als die junge Ehrenamtliche Margareta Blum, genannt Meta, das deutlich in die Jahre gekommene Pflegeheim zum ersten Mal betritt, ist es, als betrete sie eine fremde Welt. Einen eigenen Mikrokosmos, abgeschottet von der von Baustellenlärm und Zukunftsvisionen geprägten Außenwelt. Das Pflegeheim, in dem Meta ihren ersten Dienst und damit die nächtliche Sitzwache bei Herrn T. übernimmt, liegt in den letzten Zügen und verabschiedet nach und nach alle seine Bewohner*innen, bevor seine Türen für immer schließen. Herr T. ist einer der Übriggebliebenen und ein Mann, über dessen Geschichte lediglich spekuliert werden kann. Denn aus welchen Gründen schreit Herr T. jede Nacht?
Initialen ohne Geschichten
Insgesamt sechs Nächte lang sitzen die Leser*innen gemeinsam mit Meta bei Herrn T. am Bett und leisten ihm Gesellschaft, beobachten die routinierten Handgriffe von Pfleger Moses oder sinnieren gemeinsam mit dem auf Schmerztherapie spezialisierten Dr. Wendelin Pomp gleichermaßen über das Ableben der Bewohner*innenschaft wie des Pflegeheims. Die lediglich durch Initialen gekennzeichneten Bewohner*innen, deren Geschichten das Personal entweder gar nicht oder höchstens in groben Zügen kennt, scheinen dabei beinahe zu einer Randnotiz zu verschwimmen. Im Zentrum stehen die Gedanken, Gefühle und (Arbeits-)Belastung sowohl der altgedienten Pflegekräfte als auch der neu dazugekommenen und manches Mal deutlich überforderten Meta.
Während die Abläufe im Pflegeheim für Meta Neuland sind und sie die Nase über so manch Flüssigkeiten und Gerüchte rümpfen muss, hat Pfleger Moses bereits unzählige Jahre Erfahrung in der Pflegetätigkeit. Er hebt, wischt und wäscht mit einer Selbstverständlichkeit, über die nur zu staunen ist. Durch das Zusammenspiel der Figuren entsteht dabei eine ganz eigene Dynamik, die noch zunehmend an Bedeutung gewinnt, als Meta eine dunkle Vergangenheit bei Herrn T. erahnt. Ab diesem Zeitpunkt stellt sich die Frage, inwiefern Mitgefühl und Fürsorge Selbstverständlichkeit sein müssen. Und warum Moses tagein, tagaus tun kann, was für Meta eine enorme Herausforderung darstellt.
Die Nächte im Pflegeheim werden von David Fuchs in kurzen Kapiteln geschildert. Er präsentiert lediglich Abrisse eines Pflegebetriebs, der überall und nirgendwo sein könnte, mit einer Sprache, die zwischen Nüchternheit und Tiefgründigkeit zu schwingen scheint. Daneben ist Fuchs niemals beschönigend aber immer nah am Menschen. Ja, immer menschlich – genauso wie die Gedanken und Gefühle des Pflegeheimpersonals.
Blick über Mauern
Denn David Fuchs ist nicht bloßer Zuschauer, er weiß tatsächlich wovon er spricht und macht dies für die Leser*innenschaft durch die Seiten hindurch spürbar. Der Aufbau des Romans, die Kürze der Einblicke sowie auch die Ausgestaltung der Bewohner*innen als bloße Initialen mit nur wenig Geschichte, erzählt vom immensen zeitlichen und personellen Druck im Pflegesektor. Die Umrisse der privaten Geschichte von Herrn T. machen zudem deutlich, dass es auch mentale Schwerstarbeit sein kann, mit der Pflege anderer Menschen sein tägliches Brot zu verdienen. Oft bedeutet das Ergreifen dieses Berufs, sich täglich ab der Schwelle des Arbeitsplatzes eine mentale Kostümierung zulegen zu müssen, um überhaupt dem Tagwerk nachgehen zu können. Fuchs ermöglicht den Leser*innen damit einen Blick in einen abgeschotteten gesellschaftlichen Brennpunkt, der nicht nur von Mauern umgeben scheint, sondern auch das Hochziehen eigener Mauern erfordert.
»Zwischen Mauern« von David Fuchs ist im Haymon Verlag erschienen.