Monströses und Unheimliches hat schon immer die Kunst bewegt. Freakshows, Wachsfigurenkabinette, humanoide Roboter werden in der Popkultur und der zeitgenössischen Kunst gleichermaßen herangezogen. Das Spektrum des grotesk Schönen braucht eine Annäherung.
In Freakshows auf Jahrmärkten oder in Sideshows beim Zirkus traten noch im 19. Jahrhundert Menschen mit auffälligen körperlichen Merkmalen auf. Der Engländer Joseph Merrick war zu Lebzeiten als »Elefantenmensch« bekannt und rief Ekel und Faszination hervor. Dabei hatte Merrick einen Manager, der ihn bis Festlandeuropa wie einen Popstar vermarktete. Der »Elefantenmensch« litt am Protheus-Syndrom, wodurch sich seine Gewebezellen veränderten. Posthum wurde Merrick zum Symbol des von der Gesellschaft marginalisierten Außenseiters, das bekannteste Denkmal setzte ihm David Lynch mit dem Film »Der Elefantenmensch« (1980).
Ein ähnliches Schicksal erlitten Menschen, die an Hypertrichose, einem übermäßigen Haarwuchs litten. Als Wolfsmenschen traten sie im Zirkus auf und bestritten ganze Tourneen. In der Renaissance lebten manche stark behaarte Menschen an königlichen Höfen, erhielten hervorragende Bildung, wurden häufig auf Gemälden abgebildet und hatten einen Sonderstatus. In vielen Fällen konnten Kleinwüchsige, Damen mit Bart und Menschen mit Symptomen, die sie zu Außenseitern machen, ihren Lebensunterhalt durch ihr auffälliges Äußeres verdienen. Intoleranz, gleichzeitig aber auch die nachvollziehbare Faszination für Außenseiter waren die ständigen Begleiter. Das Nazi-Regime verbannte die Sideshows aus dem Zirkus und ging mit Grausamkeit gegen all jene vor, die nicht in das Konzept des Herrenmenschen passten.
Das Schöne und das Groteske
Für die Künstlerin und Filmemacherin Ulrike Ottinger sind das Schöne und das Groteske unmittelbar miteinander verknüpft. In ihrem Film »Freak Orlando« (1981) und einer dazugehörigen Fotoserie – momentan im Rahmen der Ausstellung »Parallelwelt Zirkus« in der Kunsthalle Wien zu sehen – zeigt sie die Reaktionen auf jene anders wirkenden Menschen in verschiedenen Zeiten. In Ottingers Arbeit entsteht ein Kosmos, in dem Menschen ohne Unterleib, mit übermäßiger Behaarung und Kleinwüchsige ebenso wie reale und imaginäre Körper gleichberechtigt wohnen. Waren diese in ihrem Umfeld noch vor der NS-Zeit als Stars gehandelt, so waren sie danach auch mangels Einnahmequellen noch stärker marginalisiert. Heute werden sie tendenziell stigmatisiert oder sie verdienen ihr Geld mit Auftritten in Nachmittags-Talk Shows.
Menschen aus Wachs
19. Jahrhundert waren Wachsfigurenkabinette die ultimativen Orte zum Gruseln. Berühmte Morde wurden nachgestellt, martialische Szenen aus der (Kunst-)Geschichte nachgebaut, wie die Ermordung des französischen Revolutionsmärtyrers Jean Paul Marat, detailgetreu und oft mit viel Splatter.
Dabei geht die Geschichte der Wachsfiguren auf einen praktischen Nutzen zurück. Tote Herrscher wurden früher für die trauernde Masse ausgestellt, bevor sie unter Pomp und Zeremoniell beerdigt wurden. Die Ausstellungsdauer überschritt in der Regel die Haltbarkeit eines Leichnams, der vor den Augen der Trauernden verweste. Als Heinrich I. von England 1135 aufgebahrt wurde, begann sein Leichnam zu tropfen. Ein Fleischer wurde beauftragt, den toten Herrscher über Nacht auszuweiden um den Leichengeruch zu vermindern. Der vergiftete sich an der Leiche und verstarb selbst. Man schaffte Abhilfe mit Wachsfiguren.
In Großbritannien gab es Anfang des 20. Jahrhunderts mehr als 150 Panoptiken. Wachsfiguren sind nicht nur ein beliebtes Horrorfilmmotiv. Der weltbekannte Künstler Maurizio Cattelan hat Hitler ebenso wie Papst Johannes Paul II., von einem Stein getroffen, dargestellt. Beunruhigend detailgetreue Darstellungen von Menschen gibt es auch von Marc Quinn, der nicht nur aus Kokosnussmilch, sondern sogar aus seinem eigenen gefrorenen Blut eine Skulptur seines Kopfes angefertigt hat. Viele Außenseiter der Gesellschaft hat der in Wien lebende Bildhauer Virgilius Moldovan, zwar in Übergröße, aber bis ins letzte Detail aus Silikon geformt. Äderchen und blaue Flecken sind ebenso wie Hautunebenheiten zu sehen und machen die Skulpturen ebenso authentisch wie unheimlich.
Menschliche Roboter
Wachsfiguren und Skulpturen, die den Menschen allzu perfekt simulieren, irritieren und beunruhigen erst einmal. Besonders gut ist dies bei der Begegnung von Menschen mit humanoiden Robotern zu beobachten. Diesen Effekt entdeckte der japanische Robotiker Masahiro Mori 1970 und nannte ihn »Uncanny Valley«, was soviel heißt wie »unheimliches Tal«: Ein Akzeptanzeinbruch, wenn ein Roboter oder Avatar »zu menschlich« wirkt. Im Linzer Ars Electronica Center befindet sich der Telepräsenzroboter »Telenoid«, der vom japanischen Robotikexperten Hiroshi Ishiguro entwickelt wurde. Telenoid hat nichts gemein mit den blechernen Androiden aus »Star Wars«, er beherrscht Mimik und Gestik, imitiert menschliches Verhalten und ist einem Menschen nachempfunden. Im AEC kann sich der Besucher den Roboter auf den Schoss setzen, er hat etwa die Größe eines Kleinkindes, und mit ihm sprechen.
Grenzen ausloten
Biomorphe und antropomorphe Skulpturen haben nur mehr wenig gemein mit den Wachsfiguren früherer Tage. Mit der Skulptur »Ruan« hat der chinesische Künstler Xiao Yu nicht nur die Grenzen zwischen Skulptur und Natur ausgelotet, sondern auch ein kritisches Statement zu Experimenten in der Genetik abgegeben. Xiao Yus »Ruan« hatte 2005 in Bern in der Schweiz einen Skandal mit gerichtlichen Folgen ausgelöst. Der Künstler vernähte bereits vorhandene Präparate zu einem Fabelwesen, an einem Möwenkörper befestigte er den Köpf eines menschlichen Fötus, auf den er die Augen eines Hasen nähte. Seine Skulptur, die zum ersten Mal auf der Kunstbiennale in Venedig 2001 zu sehen war, löste auch im Kunsthaus Graz, wo sie 2008 im Rahmen der Schau »Biomorphe Formen in der Skulptur« zu sehen war, heftige Reaktionen bei den einzelnen Zuschauern aus. Auch Gunther von Hagens wurde mit seiner extrem erfolgereichen »Körperwelten«-Ausstellung immer wieder dafür kritisiert, die Grenzen zwischen anatomischer und künstlerischer Darstellung zu verwischen. Die in Wien lebende Künstlerin Deborah Sengl schafft dagegen tierische Hybride in Zeichnungen und Skulpturen. Eine andere Ikone der Popkultur erweitert ebenfalls ihren Körper, modifiziert und transformiert ihn, umhüllt ihn mit einem Kokon, spricht von ihrem Penis und wird von ihren Fans oft „Mother Monster“ genannt: Lady Gaga.
Dem System entkommen
Der Künstler Javier Téllez, dessen Arbeiten in der Ausstellung »Parallelwelt Zirkus« in der Kunsthalle Wien zu sehen sind, sieht im Karneval oder Jahrmarktspektakel eine befreiende Kraft, eine Funktion, die Hierarchien außer Kraft setzt. Sein Hauptaugenmerk legt er, als Sohn zweier Psychiater, auf Menschen mit Geisteskrankheiten, die er als die am meisten Marginalisierten der Gesellschaft bezeichnet. Lars von Triers Film »Idioten« (1998) erzählt die Geschichte einer kommunenartigen Gruppe, die versucht, Menschen mit Intelligenzminderung zu simulieren, um dadurch selbst mehr Freiheit zu erlangen. Diese befreiende Kraft ist es wohl, die die Faszination des Menschen für Außenseiter, für künstliche Menschen und selbst geschaffene Wesen nährt. Die eigene Existenz ist beschränkt durch den Körper und das System, in dem man sich befindet. Anderssein befähigt dazu, erst einmal das System hinter sich zu lassen – egal ob als Cyborg, als Chimäre, als Freak, als Irrer, als Sonderling, als Wachsfigur oder Marionette. Als Grenzgänger verunsichern sie, versichern uns aber auch unsrer eigenen Menschlichkeit. Als solche sind sie die unheimlichen Dauergäste der Kunst.
Die Ausstellung »Parallelwelt Zirkus« ist bis 2. September in der Kunsthalle Wien zu sehen.