»Assassin’s Creed Odyssey« macht nach den überwiegend guten Kritiken für den letzten Teil der Reihe einen großen Schritt nach vorn. Überraschend für eine Marke, die sich lange Zeit hauptsächlich durch Beständigkeit etabliert hat.
Das neue »Assassin’s Creed« versetzt SpielerInnen in das Griechenland des fünften Jahrhunderts vor Christus. Nach zwölf Jahren und zehn Vollpreisspielen ist es nun auch endlich soweit: Wir können die komplette Story als Frau spielen, nämlich als Kassandra. Wahlweise steht ihr langweiliger und auch ein bisschen unangenehmer Bruder Alexios bereit. Der hat leider nur so viel Charme wie ein Blob und wirkt als Gegensatz zur athletischen, sympathischen Kassandra wie ein Fremdkörper. Am Spiel ändert die Entscheidung für den einen oder die andere aber lediglich das Pronomen, mit dem unsere Figur angesprochen wird. Das betrifft auch das neue »Romanzen«-Feature, bei dem sich sehr direkt und ohne große Bezirzleistung durch das antike Griechenland geschlafen werden kann.
Kriegstreiben und Verschwörungen
Wie auch immer SpielerInnen sich entscheiden: Unsere Spielfigur mit spartanischen Wurzeln wächst während des Peloponnesischen Kriegs auf der idyllischen Insel Kephallonia auf, jagt jedoch schon bald ihrer Familiengeschichte hinterher. Eine Odyssee beginnt und mit ihr werden nicht nur die familiären Umstände relevant, sondern politische und religiöse Aufgaben werden zu den unseren gemacht.
»Assassin’s Creed«-typisch bekämpfen wir einen mächtigen Kult, finden mystische Zivilisationen, bestreiten Seeschlachten und philosophieren mit einer Reihe fantastischer Nebenfiguren wie Sokrates und Herodotos. Neu hinzu kommt dabei die Eroberung von Provinzen. Jeder Ort, der auf der wirklich endlos großen Landkarte verzeichnet ist, steht unter der Vorherrschaft einer der Parteien. Durch das Zerstören von Kriegsmitteln, Töten von Soldaten einer Fraktion sowie das Stehlen von Schätzen kann diese Vorherrschaft soweit geschwächt werden, bis sich die Kriegsoption anbietet. Dann kann entschieden werden: Verteidige ich die Herrschenden, helfen ich anderen bei der Machtergreifung oder halte ich mich ganz raus? Besonders interessant: Wir müssen uns nie final für eine Seite entscheiden. Wir sind Söldner, misthios, wir müssen gar nichts und kämpfen ganz skrupellos einmal für Athen und beim nächsten Mal für Sparta – je nachdem, was sich für uns lohnt oder gerade unserer Überzeugung entspricht.
Dabei wurde das Kampfsystem um eine Reihe von übertrieben brutalen Spezialattacken ergänzt, die sich deutlich bei Zack Snyders Verfilmung von »300« bedienen. Besonders der »Spartaner Kick«, gesehen bei Leonidas, spiegelt die ikonische »This is Sparta«-Szene: Gegner werden mit einem kräftigen Kick von Klippen, Schiffen oder Mauern getreten.
Man kann auch versuchen, ohne Gewalt auszukommen, beim Versuch wird’s allerdings bleiben. Insbesondere, wenn man das 20. Banditencamp zerlegt, beginnt das moralische Hinterfragen der deutlich schnelleren Variante des Kehlenaufschlitzens zu weichen. Eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die bisher noch jede Landschaft der »Assassin’s Creed«-Reihe gefüllt hat und von der wir uns auch langfristig nicht verabschieden sollten.
Entscheidungen haben Konsequenzen
»Assassin’s Creed« tunkt mit »Odyssey« den großen Zeh in den Rollenspiele-Pool und verfolgt die Neuerungen von »Origins« konsequent weiter. Neben den bereits erwähnten, in neun von zehn Fällen eher holprigen, Flirtoptionen, wirken sich Entscheidungen langfristig auf die Spielewelt und die in ihr lebenden Figuren aus. An wessen Seite wir kämpfen, wen wir retten und welche Maßnahmen wir zum Durchsetzen unserer Agenda ergreifen, steht uns frei – diese Entscheidungen bleiben aber nicht ohne Konsequenzen. Das hält die Geschichte unterhaltsam und lässt überlegter Handeln, da es plötzlich nicht mehr egal ist, ob wir die gut geschriebenen und unterhaltsamen Nebenquests strategisch oder mit brutaler Gewalt bestreiten.
Auch Entscheidungen, die zunächst auf der Hand liegen, können uns im Nachhinein einholen. So haben wir zu Beginn des Spiels die Möglichkeit, einen scheinbar Wahnsinnigen davon abzuhalten, eine komplette Familie auszulöschen, da diese an einer Seuche leidet. Natürlich retten wir die Familie. Dass sich die Seuche plötzlich auf der ganzen Insel ausbreitet und Menschen dahinrafft – damit müssen wir dann eben Leben. Ein gelungener neuer Zusatz, der uns als Kassandra oder Alexios tiefer im fiktionalen Griechenland verankert.
Die Spielzeit, die außerhalb des Animus stattfindet, wirkt dagegen nur mehr wie das Echo einer ehemals tragenden Rahmenhandlung. Man wacht nur noch auf, wenn etwas erklärt werden will oder Layla (die auf dieser Animus-Sonnenbank liegt) mal kurz um den Block geht. Man kann dann E-Mails lesen und eine Landkarte anschauen oder auch mal in eine Höhle tauchen. Es ist aber nur noch aus Nostalgie da und wirkt fast schon ironisch.
Wider den Stillstand
»Odyssey« ist kein Meilenstein der Videospielgeschichte und wird vermutlich auch mit dem nächsten, spätestens übernächsten »Assassin’s Creed« schon wieder in Vergessenheit geraten. Trotzdem ist es eine überlegte, erfrischende Weiterentwicklung einer Spielereihe, die auch nach Jahren des vermeintlichen Stillstands noch vollkommen okay war.
Ubisoft hätte sich auch auf den Lorbeeren von »Origins« und dem »Rumrennen und schöne Sachen angucken« ausruhen können. Stattdessen tippeln sie gemächlich, aber sichtbar nach vorn, um die Spielereihe aus der Eintönigkeit zu holen. Rollenspiele-Fans finden hier weder ein neues »The Witcher« und »Mass Effect«-Fans suchen vergeblich tiefgreifende Beziehungen zwischen den Charakteren.
Die wunderschönen Landschaften, das abwechslungsreiche – wenn auch zu brutale – Kampfsystem und die interessanten Geschichten rund um eine heldenhafte, nahbare und smarte Protagonistin (oder Alexios) kombiniert mit einem gewissen Maß an Entscheidungskraft über die Entwicklung von Spielfigur und -welt ergeben in Summe eines der besten, wenn nicht das beste, »Assassin’s Creed« der Reihe.
»Assassin’s Creed Odyssey« ist für PC, Playstation 4 und XBox One erschienen.