Der Engel, den wir brauchen

Nein, er ist es nicht, der sellout den viele heraufbeschworen haben. Und das, obwohl Grimes sich auf ihrem neuen Album dem Pop widmet.

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Grimes does pop? Nein, das stimmt nicht ganz. Denn der Großteil von „Art Angels“ wird man nicht im Popradio hören. Musikalisch sozialisiert wurde Grimes (bürgerlich: Claire Boucher) im R&B und Pop der 90er und 00er Jahre. Das hört man, sie öffnet sich aber in allerlei Richtungen für Versatzstücke von Pop und copypastet sich durch seine letzten 20 Jahre. Sie verdichtet heimliche Hits zu einem packenden Album, das dem Trademark-Sound der jungen Kanadierin verschrieben ist.

Ikone Queen Superstar

Doch was ist Grimes nun? Viele versuchten Boucher und ihren Stil zu kategorisieren – das neue Album wird ihnen weitere Steine in den Weg legen. Dieser Tage beanspruchen viele Szenen, die oft Alien-gleich daherkommende Boucher für sich: Hipster sehen sie als ihre Stilikone, Pop als exzentrische Queen des Genres, Indie als ihren neuen female superstar. Grimes lässt sich aber nicht in eine Schublade stecken und schon gar nicht vor den Karren einer ganzen Bewegung spannen. Grimes isn’t anything. Grimes is everything.

Nach dem Durchbruch mit ihrem dritten Album „Visions“ wechselte Boucher ihren Arbeitsplatz erstmals vom heimischen Computer in Montréal in ein Studio in Los Angeles, erlernte zudem Instrumente. Boucher bewahrte die komplette kreative Kontrolle über die Produktion von "Art Angels". Musikalische Kollaborateure gab es nur wenige: Neben einem Gastspiel der Neo-Soul-Ikone Janelle Monae auf dem, irgendwo zwischen Funk und Electroclash mäandernden Track „Venus Fly“ wird lediglich noch die Newcomerin Aristophanes auf dem wohl extremsten Songs des Albums – „Scream“ – gefeatured: Darauf rappt die junge Thailänderin, die Boucher auf Soundcloud entdeckte, in Mandarin auf eine Gitarrenhook. Der Song versprüht eine Gore-artige Atmosphäre – auch unterstützt durch die ständigen Schreie im Hintergrund.

Trotz all der Puzzleteile stimmig

Doch Songs wie „Scream“ bleiben die Ausnahme. Der Großteil der Titel auf „Art Angels“ wird durch elektronische Beats getrieben – so auch die Single „Flesh Without Blood“. Im Video dazu greift Grimes die Symbolik des „gefallenen Engels“ auf. Sie ist mit Engelsflügeln und blutverschmiertem Kostüm zu sehen – hält ein Messer und setzt zum Harakiri an.

Ausgehend vom Alter Ego des Art Angels, performt Grimes ihre Songs auf verschiedenste Art und Weise: Wirkt sie in „California“ wie eine heimatlose Pop-Folkerin, mimt sie in dem rockigen „Kill V. Maim“ das Riot Grrl à la Karen O um dann im smoothen „World Princess Part II“ in den himmlischen Höhen einer Synthpopperin zu singen. Die größeren Produktionsmöglichkeiten trugen dazu bei, dass aus „Art Angels“ ein sehr vielseitiges Album wurde, ohne in verschiedene Teile zu zerfallen. Auch die Tatsache, dass Boucher einige Instrumente wie die Gitarre gelernt hat, die man übrigens auf „Belly of the Beat“ sowie dem Titeltrack hören kann, tragen zum Abwechslungsreichtum des Werks bei. Trotz der zahlreichen Einflüsse ist „Art Angels“ ein höchst stimmiges Werk, eben weil Grimes in Eigenregie ihren persönlichen Klangschleier darüber legen konnte.

Realiti

Der Druck auf Grimes vor dem Album war groß, war „Visions“ doch ihr Durchbruchalbum mit zwei absoluten Riesenhits: „Genesis“ und vor allem „Oblivion“. „Art Angels“, ihr zweiter Release auf 4AD, ist ein legitimer Nachfolger zu dem 2012er Werk. Und auch das neue Album liefert Hits: Die erste Single „Flesh Without Blood“, die von den Fans zwar nicht uneingeschränkt positiv angenommen wurde, ist ein exzellenter Synthpopper mit wundervollem Groove. Das absolute Highlight des Albums ist jedoch ein Track, der schon seit Langem in einer Demo-Version bekannt ist: „REALiTi“. Für das Album noch einmal neu arrangiert, büßte der Song nichts von seiner Intensität ein und wirkt perfekt im Albumverbund.

Pop und sein Absturz

An Ende ist Grimes selbst der Titelheld, der Art Angel – eine Frau, die dem Pop zu etwas Höherem, zu einer post-modernen Kunst, stilisiert. Man könnte nun die Analogie zu Taylor Swift ziehen, die es letztes Jahr mit dem lupenreinen Pop von „1989“ schaffte, zum größten Superstar des Jahres zu werden. Auch Swift stilisierte Pop zur großen Kunst, mauserte sich damit zu Everybody’s Darling und stürmte gar die Bestenlisten diverser Indie-Plattformen. Grimes wird dies auf andere Weise schaffen. Grimes inszeniert sich selbst bewusst als gefallener Engel und darin steckt auch die eigentliche Wahrheit. Sie ist der gefallene Engel des Pops. Ihr Pop trägt die Spuren des Absturzes, des eigenen Bluts, des eigenen Drecks. Und deswegen ist ihr Pop auch ureigen, nicht zu kopieren, nicht einzuordnen. Im letzten Songs des Albums, „Butterfly“, ein mit einem glasklaren Housebeat unterlegter Pophit, der in seiner Zugänglichkeit eine Art Anomalie auf dem Album ist, stellt Boucher klar, dass sie nicht zu einem Postergirl à la Taylor Swift taugt: „If you’re looking for a dreamgirl / I’ll never be your dreamgirl“, heißt es da. Grimes möchte nicht angehimmelt werden – sie bleibt lieber der Außenseiter, der unerreichbare Art Angel.

"Art Angel" von Grimes ist soeben via 4AD erschienen.

Bild(er) © Rankin
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