Alle Jahre wieder blickt unsere Redaktion auf die popkulturellen Highlights der letzten zwölf Monate zurück. Mit streng subjektivem Blick. Was Bernhard Frena aus 2022 besonders in Erinnerung bleiben wird, könnt ihr hier nachlesen.
Etwas verspätet, aber immerhin noch zu Jahresbeginn, meine persönlichen Jahrescharts für 2022. Auch wenn sich letztes Jahr wieder mehr in der »realen« Welt abgespielt hat, die digitale Welt hat mich nicht völlig losgelassen. Und ganz ehrlich: So richtig trennen lässt sich das ja nicht. Dafür ist meine Comic-Bestenliste diesmal völlig analog (von einer kleinen Schummelei abgesehen).
Top 10 Internetscheiß 2022
10. »Webcomic Name«-Rechtsstreit
Halb um einen meiner liebsten Webcomics unterzubringen, halb um auf den Fall aufmerksam zu machen: »Webcomic Name« (manchen besser bekannt als der »Oh No!«-Comic) ist seit 2019 Schauplatz eines Rechtsstreits. Alex Norris macht den Comic in Eigenregie und bekam dann das Angebot, für eine Firma ein zugehöriges Brettspiel zu gestalten. Diese Firma versucht seither sämtliche Rechte, nicht nur für das Brettspiel, sondern für den gesamten Comic an sich zu reißen. Alex Norris erklärt das alles genauer in einem längerem Twitter-Thread. Aber abgesehen davon ist auch der Comic einen Blick wert.
9. Liz Truss Lettuce
»Will Liz Truss still be Prime Minister within the 10 day shelf-life of a lettuce?«, betitelte das britische Tabloid Daily Mail jenen Youtube-Livestream, in dem es einem Porträt der krisengerüttelten Premierministerin einen Eisbergsalat in blonder Perücke gegenüberstellte. Das war am 14. Oktober. Am 20. Oktober gab Truss ihren Rücktritt bekannt. Ein Sieg fürs Grünzeug. Und vermutlich auch für das Vereinigte Königreich.
8. »Don’t Look Up« in Real Life
Ob ein Reality-TV-Star als US-Präsident, egomanische Milliardäre wie direkt aus James Bond oder Verschwörungstheoretiker*innen jeder Couleur – Fiktion und Realität trennte in den letzten Jahren nur noch ein schmaler Grat. Den direkten Vergleich leistete aber eine britische Journalistin bei der Befragung eines Meteorologen zur diesjährigen Hitzewelle.
7. »Morbius«-Re-Release
Wenn ein Superheld*innen-Film floppt, dann bedeutet das große Verluste für das Filmstudio. So erklärt sich vielleicht das realitätsferne Wunschdenken von Sony-Manager*innen bei »Morbius«. Der Film rutschte dermaßen durch bei Kritiker*innen und Publikum, dass er zum ironischen Meme wurde. Unter #MorbiusSweep wurden für den Film kritische Höchstnoten und immense Publikumszahlen fingiert. Die fiktionale Catchphrase »It’s morbin time« zog sich durch Twitter. Diese steigenden Trendzahlen nahm Sony als Argument »Morbius« nach dem gefloppten ersten Release erneut ins Kino zu bringen – mit dem zu erwartenden Mangel an Erfolg.
6. Device Orchestra
Britney Spears »Toxic« in einer Coverversion von Haushaltsgeräten mit Googly Eyes. Muss ich mehr sagen?
5. Wordle
Die ersten Monate dieses Jahres drehte sich auf Social Media alles um grüne, gelbe und graue Quadrate. Wordle erschien zwar eigentlich schon Ende 2021, seine Popularität explodierte aber Anfang letzten Jahres und so wurde das Spiel schließlich auch von der New York Times gekauft. Sein simpler Mechanismus erwies sich nicht nur als suchterregend, sondern auch als beliebig adaptierbar. Wordle-Varianten gibt es mittlerweile etwa für Schachpositionen, Songintros, Rechenbeispiele oder Taylor-Swift-Trivia.
4. »We are excited to announce Insulin is free now.«
An irgendeiner Stelle in so einer Liste mussten dieses Jahr Twitters potenzielle Todeswehen Platz finden. Eine der publikumsreifsten Phasen davon war wohl, als für acht Dollar im Monat alle Trolle dieser Welt für kurze Zeit legitim erscheinende Tweets mit offiziellem blauem Checkmark posten durften. Der Höhepunkt: ein ›offizieller‹ Tweet der Pharmafirma Eli Lilly, die in den letzten Jahren vor allem für astronomisch ansteigende Insulinpreise in den USA bekannt war. Der weit publizierte Troll-Tweet »We are excited to announce Insulin is free now.« führte dazu, dass Eli Lilly innerhalb kürzester Zeit etwa 15 Milliarden an Marktwert verlor. Was allerdings wenige wissen: Die Person hinter dem Tweet hat dazu ein Youtube-Video veröffentlicht.
3. The Sexy Cyborg Origin Story
Wenn westliche Medien über Menschen aus anderen Kulturen schreiben, dann geschieht dies allzu oft aus einer exotisierenden Perspektive, ohne Rücksicht auf etwaige Folgen, die solche Reportagen für die Menschen vor Ort haben können. So geschehen bei einem Beitrag, den Vice 2018 über die chinesische Youtuberin Naomi Wu aka Sexy Cyborg veröffentlichte. Vier Jahre später folgte von Wu der Bericht aus eigener Perspektive. Ungleich spannender und mit einem Einblick darin, wie unterschiedlich queere Erfahrungen aussehen können.
2. Infinite Conversation
Das bislang beste Ergebnis der Tatsache, dass AI mittlerweile alles generieren kann? Die Möglichkeit, nach Lust und Laune ein unendliches Gespräch zwischen Slavoj Žižek und Werner Herzog anzuhören! Text und Stimmen sind dabei völlig computergeneriert. Sinnhaftigkeit ist optional, Authentizität dafür nahe am Original. Jetzt fehlt nur noch die AI-generierte Videokomponente und der nächste Werner-Herzog-Film ist im Kasten.
1. Defunctland: Disney Channel’s Theme – A History Mystery
Der Unterschied zwischen klassischen Dokus und Video-Essays ist nicht nur, dass Letztere oft einen weit persönlicheren und argumentativen Zugang haben. Video-Essayist*innen haben auch den Luxus, extremen Nischenthemen stundenlange Aufmerksamkeit schenken zu können. Der Kanal Defunctland etwa dreht sich um still gelegte Vergnügungsparks und obskure Fernsehformate. Das jüngste Meisterwerk des Kanals handelt aber von einer Melodie aus vier Tönen: der Kennmelodie des Disney Channels und der Suche nach deren Urheber*in.
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