Die für ihre Liveauftritte gefeierte Wiener Gruppe Bipolar Feminin überzeugt auch auf ihrem Debütalbum – inhaltlich und vor allem musikalisch.
Alles kann man eigentlich nie haben. Der Kapitalismus – was sonst? – und das ihm inhärente asketische Verzichtssystem haben uns ein Kompromissmantra auf die Oberschenkel tätowiert: entweder finanzieller Wohlstand oder psychosoziale Gesundheit, entweder dieses oder jenes. Permanent faule Deals im Entweder-oder. Einzelne Lichtblicke im Sinne der Kompromisslosigkeit wirken daher wie die ersten Sonnenstrahlen nach Vitamin-D-armen Wintern. Besonders schön sind sie, wenn sie nicht völlig unerwartet kommen.
Auch dass die für ihre Konzerte in den Himmel gelobte Wiener Gruppe Bipolar Feminin – die besten Namen sind auch immer Statements! – auf in Vinyl geritzter Langstrecke zu überzeugen weiß, ist jetzt nicht die größte Überraschung. Schließlich war bereits die vor knapp einem Jahr erschienene EP »Piccolo Family« Beweis für musikalische Qualität. Sie funktionierte bestens auch ohne aktionistisches Live-Erlebnis: am Smartphone, im Ohrensessel, zur Spaghettiparty am WG-Küchentisch. Qualität, die auch das renommierte Label Buback Tonträger überzeugte. Noch immer sind Debütalben österreichischer Bands bei ausländischen Labels eine bemerkenswerte Seltenheit. Aber eben auch kein Zufall, dass es gerade Bipolar Feminin gelingt.
Absolute Relevanz
Als Beispiel für ihre beißende Kritik an einem sterbenden, fragilen »System«, gebaut aus metaphorischen Kartenhäusern der gender-based Ausbeutung, Unterdrückung und Selbstaufgabe, könnte nahezu jeder der zehn Songs taugen – vor allem »Mami«, »Attraktive Produkte«, »Sie reden so laut« und »Struktur«. Solche Kritik ist nicht nur Mode, sondern auch zivilrevolutionäre Notwendigkeit und verleiht der Gruppe absolute Relevanz, weit über manch willkürlich gesetzte Grenzen hinaus.
Die gut akzentuierte sprachliche Schärfe von Texterin und Sängerin Leni Ulrich lässt gerne das Handeln aller überdenken. Aber insbesondere der oft überraschend süße und größtenteils sehr leichtfüßige Indie-Sound des Vierers, der über große Strecken eine Ton-Text-Schere erzeugt, schenkt »Ein fragiles System« eine gewisse Größe, die sich bisweilen sogar vom Inhalt emanzipiert. Es gibt kein Entweder-oder bei Inhalt und Verpackung. Und wie offenbar immer bei Bipolar Feminin: keine Kompromisse.
Das Album »Ein fragiles System« von Bipolar Feminin erscheint am 19. Mai 2023 bei Buback Tonträger. Die nächsten Konzerttermine der Band lauten: 20. Mai, Linz, Stream Festival — 24. Mai, Klagenfurt, Klagenfurt Festival — 3. Juni, Vöcklabruck, OKH — 6. Juni, Wien, Flucc.