Bilder aus Erfurt – Tanz in Wien. Dazwischen der Zug und alle anderen Wörter, die da noch dazugehören: Anzug, Luftzug, Vogelzug. Spielerisch erkunden Tänzer*innen das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Öffentlichkeit entlang der Schienen von Gestern nach Heute. Auch der Humor kommt dabei nicht zu kurz.
Bisweilen ist der Aufenthalt in einem Bahnhof, einem Wartehäuschen, einem Zugabteil eine einsame Geschichte. Doch der Zug ist ein öffentlicher Raum und alle, die einsteigen und sich auf die Reise machen, sind Teil dieses Raumes. Jede*r nimmt sich in diesem Raum als Individuum wahr, ist aber Teil des Reisekollektivs. Während Biografien hinter Zeitungen und Smartphones verborgen bleiben, entfaltet sich ein unbewusster Austausch durch Blicke, Haltungen und schlichte Präsenz.
Bilder für einen Tanz
Im begrenzten Raum des Zuges herrscht Ordnung nach Sitz- und Stehplätzen. In der Stadt und im urbanen Raum entsteht diese Ordnung durch Architektur und Infrastruktur. Hochhäuser, Straßen, Plätze: Oberflächen und Fluchten haben ihre eigenen Spannungen und Bewegungen. Wir sehen sie in Glas, Beton und Kunststoff statisch flimmern. Als wären sie ebenfalls am Tanzen. Die mobile Immobilie – der Abend lädt ein, den öffentlichen Raum neu wahrzunehmen.
Mit offenen Augen und fliegenden Assoziationen gehen Tänzer*innen des Tanztheaters Erfurt sowie von Ich bin O. K. – dem Tanzverein für Menschen mit und ohne Behinderung – auf eine Reise. Sie stürmen auf der Bühne aneinander vorbei. Manche in Eile, manche in Erwartung der Eile. Bahngleis eins – ein Zug fährt ab. Eine Frau verteilt Blumen. Wer hält all diese flüchtigen Momente fest? »Erinnerungen sind schön und wichtig, doch oft vergessen wir sie«, lautet es zum Einstieg in den Abend. »Zug 2.0« gräbt solche Erinnerungen aus – in Fotografien, Tanz und Bewegung. Geschichten, Gefühle und Konflikte werden durch Körper erzählt: fließend, stockend, gebrochen.
Von Zug zu Zug
Da sind viele Schwarz-Weiß-Bilder. Manche stammen erst von gestern und manche aus einer Zeit, in der Bomben fielen und Menschen in Zügen zu Gaskammern deportiert wurden. »Zug 2.0« bleibt politisch, ohne ins Pathetische abzurutschen. Gerade noch um Luft ringend, fallen Sauerstoffmasken herab und die Stewardessen legen diese tanzend zu »Toxic« von Britney Spears an. So gestaltet sich der ganze Abend leichtfüßig auf der Assoziationskette tänzelnd.
Zum Schluss beenden die zwei Tänzer*innen vom Tanztheater Erfurt den Abend mit einem »Pas de Deux« und man fragt sich, warum gerade diese beiden das Finale zugesprochen bekommen. Denn die Stars des Abends sind wahrlich die Mitglieder von Ich bin O. K.: Hier tanzen drei Frauen sowie zwei Männer und alle fünf haben ihren eigenen Signature-Style. Von Breakdance-Beilagen bis Exzentrik-Einlagen. Das ist mehr als okay. Das ist bunt, das ist laut, das ist mutig.
Es ist diese Vielstimmigkeit, die den Abend dazu macht, was Theater und Tanz sein sollen. Da stehen vergangene Momente, neben Gedanken und Bildern, neben offenen Konflikten. Zurück am Bahnhof tanzen dann immobile Gleisbauten mit mobilen Zuggarnituren. Mittendrin sind wir. Ambivalenzen, Assoziationen, Anzüge – ja, der Zug fährt bald. Wer fährt mit?
»Zug 2.0« war von 30. November bis 1. Dezember 2024 im Dschungel Wien zu sehen.
Dieser Text ist im Rahmen eines Schreibstipendiums in Kooperation mit dem Dschungel Wien entstanden.