Chroniken der Wiener Lokusliteratur

Auf Wiener Häusln findet man echte Inhalte, Lebensweisheiten und literarische Perlen. Eine Annäherung.

»Naive Liebe ist auch oasch.« Wessen Liebe? Wer bist du, verdammt, desillusionierte Unbekannte, desillusionierter Unbekannter? Wir suchen nach Antworten. Man stelle sich also vielleicht Carla vor. Carla ist 25 Jahre alt, Studentin der, na sagen wir, Germanistik und der ewigen Wälzerei von literarischen Werken überdrüssig. Zudem hatte sie vor Kurzem eine Erfahrung amouröser Natur, (mit Männlein oder Weiblein, das ist für unsere kleine Geschichte hier irrelevant) und dieses Techtelmechtel ist leider im Sand verlaufen. Carla greift also kurzerhand zum Stift und schreibt: »Naive Liebe ist auch oasch.« Danach hat sie sich vielleicht bei Tinder angemeldet. Ja, so wird es gewesen sein. So oder anders, und es war gar nicht Carla, sondern Carlos oder wer auch immer. Wir werden es im Falle der Lokusliteratur nie wissen. Autorin oder Autor unbekannt. Verlag nicht existent. Auflage, die erste – bis jemand zum Essigreiniger greift und das Ganze schöne Gekritzel mit Schweiß und Müh entfernt. Wir haben es hier schließlich mit einem vergänglichen, kurzlebigen literarischen Genre zu tun.

Toilet Art – (politische) Kunst im öffentlichen Raum?

Der Fall der naiven Liebe am WC der Wiener Filmakademie, die auch oasch ist, mutet zwar tragisch an, ist jedoch politisch relativ harmlos. Brisanter wird es schon, wenn man sich fragt, wie wohl die Toiletten der präferierten Lokale einer Burschi-Verbindung oder im Gegensatz dazu das stille Örtchen diverser links-orientierter Institutionen aussieht? Denn auch wenn der Akt des Schreibens, Bekritzelns, Besprayens oder Verzierens der Toilette in den meisten Fällen anonym passiert, so ist das Endergebnis immer ein öffentlich sichtbares. Man überlege sich die rege Zirkulation, die vielen Augenpaare, die sich tagtäglich auf den verschiedensten öffentlichen Klos ein und aus bewegen. Die Toilette ist nun mal Urban Space, geteilte Nutzungsfläche, sie ist Medium, im gleichen Maße wie es eine Litfaßsäule oder eine Facebook-Wall ist. Alleine dieses Faktum macht sie zu einer Projektionsfläche, die gesellschaftspolitisch nicht uninteressant ist.

Die jeweiligen Inhalte sind jedoch stark Milieu-abhängig. »Riot not diet«, ziert beispielsweise in großen, schwarzen Lettern den Spülkasten der Toilette des Votiv Kinos. »Support your sisters, not just your cis-ters«, prangt von der Wand des Klos im Wiener Kaffee Gagarin. Ein Schild, auf der Damentoilette der Hauptbibliothek, das dazu auffordert keine femininen Hygieneartikel hinunterzuspülen, wurde mit einem simplen »Mein Tampon ist männlich« kommentiert. Feministische Botschaften auf den Wänden der stillen Örtchen Wiens sind keine Seltenheit. Und auf einmal ist es dann gar nicht mehr so still dort.

Anti-faschistische Statements, Solidaritätsbekundungen, politische Slogans und die obligate »Freiheit beginnt im Kopf«-Poesie, die Bandbreite ist groß. Die Inhalte der vorhin angeführten Burschi-Toiletten wollen wir hier getrost außen vor lassen. Bleibt höchstens zu fragen, ob Bumsti sich schon einmal zu einem Klo Posting bemüßigt fühlte. Vielleicht sogar mit Hashtag #wähltsowieihrdenkt. Oder so.

Latrinalia – ja, es existiert ein Fachvokabel

Schriftliche und grafische Spuren der menschlichen Kommunikation auf der Toilette sind keineswegs ein modernes Phänomen. Ihre Geschichte ist wahrscheinlich so alt wie das stille Örtchen selbst. So wurden beispielsweise bei archäologischen Ausgrabungen in Pompeji antike Latrinalia (ja, es existiert hier tatsächlich ein Fachvokabel) gefunden.

Diese Tatsache führt uns wieder zurück zu der Frage nach den Motivationen und Motiven, sich auf der Toilette zu verewigen. Mit Sicherheit stehen in etwa dieselben Bewegründe dahinter, wegen derer Sprayer zur Dose greifen. Es ist das Faktum der Anonymität, das die Zunge lockert und den Edding quietschen lässt. Es ist der Wunsch nach zwischenmenschlichem Austausch, das inhärente Verlangen seinen Senf dazugeben zu können. Manchmal ist es wahrscheinlich einfach auch eine gute Möglichkeit, neben der herkömmlichen Entleerung zusätzlich Dampf abzulassen: »Ich hasse Menschen, Tiere und Pflanzen. Steine sind okay.«

Zum Interview mit Norbert Siegl, der Klosprüche bereits seit 1976 beforscht, geht es hier.

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