Talia Radford entwirft Produkte. Sie entwirft sie für die Menschen. Für die Menschen war sie auch am Wiener Hauptbahnhof und hat dort bei der Versorgung der ankommenden Flüchtlinge geholfen. Darüber hat sie einen Kommentar geschrieben – erstveröffentlicht bei Dezeen, von uns auf Deutsch übersetzt.
Seit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien gab es keine derart großen Flüchtlingsbewegungen mehr, die Österreich unmittelbar betrafen – bis jetzt. Während Politiker wie gelähmt erscheinen und vor ihren eigenen parteipolitischen Entscheidungen erstarren und sich die Verantwortung einander zuschieben, haben sich immer mehr Menschen der österreichischen Bevölkerung dazu entschieden, das Ruder selbet in die Hand zu nehmen und den Flüchtlingen vor allem das zu geben, was sie im Moment am meisten brauchen: Menschenwürde.
Ungefähr 15.000 Menschen legten während des ersten Wochenendes im September einen Fußmarsch von Ungarn nach Österreich zurück und verwiesen so auf eine gesamteuropäische humanitäre Krise. Das sind vier Menschen pro Sekunde. Viele von ihnen wollen weiter nach Deutschland, vor allem einfach deshalb, weil sie nichts, oder nur sehr wenig über Österreich wissen.
Design ist für Menschen
Mein Name ist Talia Radford, ich lebe in Wien und bin von Beruf Produktdesignerin, mit einer großen Leidenschaft für Technologien, aber einer noch größeren Liebe für Menschen. Mein Studio bedient vor allem größere Firmen im Technologiebereich, aber wir stellen Organisationen und Firmen, die sich mit sozialen Themen auseinandersetzen, unser Know-How auch kostenlos oder für sehr wenig Geld zur Verfügung. Im Normalfall schaffen wir es, das für ein oder zwei Projekte innerhalb eines Jahres zu tun. Wir machen das, weil wir finden, dass der Designbereich an sich ein emphatischer, neugieriger und mitfühlender ist, und weil die Zeit, als es in Punkto Design nur darum ging, wie man einen Stuhl verhübscht, längst vorbei ist. Bei Design geht es in erster Linie um Menschen.
Pop-Up Bazar am Bahnsteig
Die plötzliche Veränderung im politischen Geschehen am vergangenen Samstag hatte zu bedeuten, dass Wien eine hohe, aber nicht klar einzuschätzende Anzahl an Menschen auf der Flucht erwarten würde. Menschen von überall, Familien mit kleinen Kindern, schwangere Frauen, aber vor allem junge Männer warteten an den Bahnsteigen der Wiener Bahnhöfe auf Züge. Die Caritas und das Rote Kreuz waren schnell vor Ort und gingen ihrer Arbeit möglichst effizient nach, sodass nach kürzester Zeit Supermarkt-Einkaufswägen mit Bergen an Essen und Trinken unter die Leute gebracht werden konnte.
Es entwickelte sich schnell ein Pop-Up-Bazar am Bahnsteig mit gratis Essen, Trinken und Sanitärartikeln, warmen Kleidern und Schuhen. Durch den Hashtag #trainofhope kommen Helfende und Flüchtlinge live-ticker-artig an Informationen. Menschen mit Schildern begrüßten die ankommenden Flüchtlinge, aber man sah auch Migranten Zeichen der Dankbarkeit hochhaltend. Manche hatten Zettel mit Tixo an ihre Kleidung geklebt, auf denen die Sprachen standen die sie sprechen, um dann sofort als ad-hoc Übersetzer zu fungieren.
Ein Paar reagierte schnell, als klar wurde, dass die dafür vorgesehene Halle mit Betten nicht groß genug sein würde und fing an Telefonnummern von Menschen zu sammeln, die eventuell Flüchtlinge für eine Nacht aufnehmen würden, bevor sie am nächsten Tag ihre Zugreise dann fortsetzen. Eine Gruppe von Studenten sammelte währenddessen alle Informationen betreffend der Züge und ihrer Ankunftszeiten, vor allem der speziell für Flüchtlinge eingeplanten Züge und beantwortete welche Routen noch am gefahrlosesten zu bewältigen wären. Dinge wie „Fahr nicht nach Berlin, wenn du dafür durch die tschechische Grenze musst" waren zu hören. Das ÖBB-Netzwerk wurde innerhalb Österreichs zu einem in der freie Fahrt für alle gilt. Auch die Westbahn schloss sich diesem Gedanken an.
Are you save?
Ging vermutlich gar nicht anders, denn die Flüchtlinge aus der Masse an Leuten, die sich auf den Bahnsteigen tummelten, herauszufiltern war ein Ding der Unmöglichkeit. Unter den vielen Menschen die Essen und Kleidung ausgaben, den vielen Native Speaker, die als Übersetzer vor Ort versuchten zu helfen und den Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak, Pakistan und Afghanistan war es schwierig für die freiwilligen Helfer herauszufinden, wer denn nun wirklich Hilfe benötigte und wer nicht. Mit meiner gebräunten Haut, meinen schwarzen Haaren und grünen Augen wurde mir ständig Essen, Trinken und Hilfe angeboten.
Am Samstag Abend klebte die Stadt Wien Plakate auf, auf denen, sowohl in Englisch als auch in Arabisch „You are safe“ zu lesen war. Und das Gefühl, das die vielen Menschen hinterließen als sich der erste große Trubel langsam auflöste war, dass Europa sich für immer geändert hatte.
Es liegt an uns, dafür zu sorgen ob diese Veränderung eine positive ist, oder zumindest werden kann. Sind die meisten Menschen die hier ankommen nicht gebildet, hoch motiviert und mit dem allergrößten Überlebenswillen ausgestattet? War das Nachkriegs-Amerika nicht eines, das in erster Linie von Flüchtlingen wieder errichtet wurde? Albert Einstein ist da wohl das offensichtlichste Beispiel, aber auch Steve Jobs ist der Sohn eines syrischen Migranten. Ich bin neugierig herauszufinden, welches kreative und intellektuelle Potential in den Menschen steckt, die hier täglich, teilweise zu Fuß ankommen – und als Designer bin ich motiviert es offenzulegen.
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