Die Nerven sind die neuen Posterboys intellektueller deutschsprachiger Rockmusik. Wie das und der deutsche Punk so zustande gekommen sind, erfährt man hier. Achtung: Namedropping bis zum Exzess.
Nicht ganz unbeteiligt war daran ein Mann, der die deutsche Punk- und Post-Punk-Szene auf Jahrzehnte hin prägen sollte: Jens Rachut. Der Hamburger Sänger trat erstmals auf den Plan mit seiner legendären Band Angeschissen, eine der ersten Formationen, die deutschsprachigen Punk einen gewissen Emo-Touch verlieren und das auch textlich untermauerten und auf intimere Lyrics setzten, im Gegensatz zu beispielsweise den frühen Scherben. Seinen Stil bliebt Rachut nach der Trennung 1988 den Jahren über treu, mit seinen allesamt wunderbar benannten Gruppen Blumen am Arsch der Hölle (1991-94), Dackelblut (1994-98), Oma Hans (2001-06). Auch das aktuelle Hauptprojekt Kommando Sonne-nmlich (seit 1998) ist dieser Tradition verpflichtet. Auch der eruptive, exaltierte Gesang Rachuts bleibt als projektübergreifende Trademark erhalten. Nur die Nuclear Raped Fucked Bombs (kurz: NRFB) passen so gar nicht ins Schema, das ist einfach nur Pop.
Pop ist eigentlich auch die beste Bezeichnung für eine weitere, 1984 in Hamburg gegründete und bis heute aktive und wichtige Band: Die Goldenen Zitronen, die sich jedoch zu keiner Phase als musikalisch dem Punk verpflichtet fühlten, aber dennoch großen Einfluss genossen. Spätestens mit dem 2013 erschienenen „Who’s Bad“ ist der aber völlig hinüber.
Apropos Einfluss: 1985 erscheint das wohl wichtigste Album einer unbekannt gebliebenen Band ever: „1914!“ von Campingsex. Die 1982 unter anderem vom späteren Mutter-Sänger und Solokünstler Max Müller gegründeten Berliner, gelten mit ihrem darken, verspielten und Feedback-lastigen Wave-Post-Punk als wichtigster Einflussfaktor auf Sonic Youth. Laut Thurston Moore. Das kann man dann schon glauben. Auch auf eine aktuelle, leicht Richtung Mainstream schielende Gruppe, nämlich Messer, hat „1914!“ eine massive Bedeutung. Zu Messer später mehr.
1985 gründeten sich außerdem die Stuttgarter Fliehende Stürme, deren Kreuzung von amerikanischem Hardcore und Dark-Depro-Wave die Fans von Bauhaus und anderen Gothic Wave Bands bedient.
Die ebenfalls Mitte der 80er entstandenen, sehr klassischen Punker Boxhamsters konnten zwar zeitlebens viel Einfluss ausüben, die unbestätigten (!) Vergewaltigungsvorwürfe gegen Sänger Martin Coburg 2006 hinterließen aber einen tiefen Burggraben um die Band, noch heute werden reihenweise Supportshows abgesagt.
Hamburg Calling
In den nächsten Jahren entwickelten sich in Hamburg dann die Vorläufer dessen, was das Bild der Stadt im gesamten deutschsprachigen Raum prägt: Die Hamburger Schule. Die Vorläufer der Lieblinge von 90er-Studenten, waren aber noch deutlich weniger sloganhaft als Tocotronic und deutlich mehr am intellektuellen Punk orientiert. Die heilige Trias der frühesten Phase der Hamburger Schule bildeten Cpt. Kirk &., Kolossale Jugend und Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs. Ende der 1980er waren großartige Bandnamen in, wovon auch die etwas psychedelischeren Flowerpornoes von Tom Liwa mehrere Lieder singen können. Bereits die drei genannten Bands zeichnen sich durch stilistische Vielfalt aus: Cpt. Kirk & sind dem Rachutschen lyrischen Pathos verpflichtet, Lo-Fi Post-Punk und der Mischung aus exaltiertem Gesang und Sprechpassagen. Kristof Schreufs Kolossale Jugend sind muskalisch spürbar härter, textlich aber ähnlich. Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs sind dafür eher dem klassischen 1980er US-amerikanischen Independentrock zuzuschreiben. Der Einfluss aller drei Gruppen war aber immens, mittlerweile haben sich aber alle aufgelöst.
Was dann folgte, war die Hamburger Schule, die aber musikalisch nicht in die Kategorien Punk, Post-Punk und Post-Hardcore passt. Außerdem sind viele Bands so bekannt, man kann sie in jedem Klatschblatt nachlesen kann, exemplarisch seien hier nur Tocotronic – die mit der Einordnung in eine Szene besonders unglücklich waren –, Die Sterne und Blumfeld genannt. Dirk von Lowtzow, Frank Spilker und Jochen Distelmeyer sind heute noch die Spokesmen deutschsprachiger Rockmusik.