Die Nerven sind die neuen Posterboys intellektueller deutschsprachiger Rockmusik. Wie das und der deutsche Punk so zustande gekommen sind, erfährt man hier. Achtung: Namedropping bis zum Exzess.
Was sich abseits des Mainstreams der Hamburger Schule in der intellektuellen Punk-Szene entwickelte, benötigt dagegen mehr Wörter: Unter dem Einfluss vorangegangener Helden gründete sich 1991 …But Alive, die unmittelbare Vorgängerband der Charts-Popper und –Beinahe-Topper Kettcar. Auf dem eigenen Label BA Records veröffentlichte die Band bis 1999 vier Alben, die allesamt zu Szeneklassikern wurden, sowie drei 7“. Das politische inspirierte und teilweise auch an Post-Hardcore US-amerikanischer Spielart orientierte Klangbild unterschied sich vom restlichen Angebot in Hamburg und traf den kontempären Nerv. Die 1993 gegründeten Muff Potter stammen überraschenderweise nicht aus Hamburg, sondern aus dem Münsterland. Im Unterschied zum immer noch vorherrschenden politischerem Punk, entwickelten Muff Potter – deren Sänger Nagel nach der Auflösung 2009 als Schriftsteller reüssiert – einen Sound, dem man gemeinhin – in Kombination mit den intimeren Texten – als frühen Emo bezeichnen kann, die Einflüsse von Hüsker Dü und auch den Veteranen der deutschen Szene, allen voran EA80, sind allgegenwärtig. Was Casper für den Mainstream-HipHop 2011 war, war Muff Potter für den Punk der mittleren 90er.
Die 1996 gegründeten Hamburger Superpunk versuchten hingegen bis zu ihrer Auflösung 2012, Punk mit den Mitteln des Pops zu spielen, was ihnen eine ambivalente Position innerhalb der Bewegung einbrachte. Das Sitzen zwischen zwei Stühlen fühlt auch die Nachfolgerband Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen, die im Dezember 2012 ihr Debut veröffentlichten, nach.
Einen großen Paukenschlag vollbrachte dann die heute noch sehr aktiven und sehr geschätzten Turbostaat aus Husum. Insbesondere mit den ersten drei Alben, „Flamingo“, „Schwan“ und „Vormann Leiss“, die zwischen 2001 und 2007 erschienen, prägten die Norddeutschen die deutsche Punkszene nachhaltig. Die Idee, jeden ihrer Songs mit Auszügen aus Filmscores zu beginnen, stammt zwar von …But Alives 1991er Demotape „Krawehl! Krawehl!“, die Verbindung von norddeutschem Lokalkolorit, damit zusammenhängender Seemannsromantik und härterem Post-Hardcore inspiriertem Klang. Turbostaat blieben das gesamte letzte Jahrzehnt die maßgebliche Punkband, der Underground jubilierte bei jedem Machwerk. Das 2013 erschienene, fünfte Album „Stadt der Angst“ ging allerdings etwas unter. Der Vorgänger „Das Island Manøver“ wurde aber dank Post-Rock-Phasen das definitive Album 2010. Wenn man 2010 nur ein Punk-Album kaufen wollte, dann war es das.
Die Noughties
Die Nullerjahre, die ja in jedem Genre für eine massive exponentielle Steigerung des musikalischen Gesamtoutputs sorgten, lassen insgesamt die Veröffentlichungen etwas unübersichtlich werden. Neben Indierock-inspirierten Künstlern wie Winson, Schrottgrenze, Sport, Herpes und die sehr optimistisch benannten Die Charts, tauchten auch dem klassischen Deutschpunk zuordenbare Gruppen wie Von Spar, Kafkas und Abgefuckt in den Magazinen auf. Trotz der verhältnismäßig hohen Veröffentlichungsdichte blieb intellektuelle, deutschsprachige, punkinspirierte Musik in den 00er Jahren größtenteils auf Turbostaat reduziert.
Erschwerend kam dann der große Audiolith-Hype Ende des Jahrzehnts dazu. Einheitsbands wie Frittenbude, Egotronic, Bratze, Saalschutz und Jeans Team bestimmten den gar nicht mehr so alternativen Mainstream, Electroclash war der Shit. Klar, da waren auch ein paar Gitarren dabei, so recht anfreunden konnte man sich damit jedoch nicht, auch wenn noch heute junge Erwachsene das Shirt mit den schönen großen Buchstaben tragen. Auch wenn der Hype schon lange vorbei ist. Auch Audiolith hat das erkannt und hat 2012 mit Feine Sahne Fischfilet auch eine Punkband mit Gitarren, Schlagzeug und Bass (als Instrument) im Roster.
Noch während dem Hype um Audiolith, entwickelte sich jedoch auch in der Gitarrenmusik einiges, seit dem Wechsel des Jahrzehnts wurden einige Gruppierungen an die Oberfläche der Wahrnehmung gespült: Auch hier bietet die musikalische Ausrichtung ein weites Spektrum, auch diesmal ist die Verbindung von Indierock und Punkanleihen gang und gäbe. Als Beispiele dienen hier unter anderem die Berliner Chuckamuck, die Berufsunsympathler 1000Robota, aber auch Herrenmagazin und die 2012 mit einem Hype augestatteten Vierkanttretlager. Letzere drei Bands kommen aus Hamburg bzw. Husum.