Die Nerven sind die neuen Posterboys intellektueller deutschsprachiger Rockmusik. Wie das und der deutsche Punk so zustande gekommen sind, erfährt man hier. Achtung: Namedropping bis zum Exzess.
In den letzten Jahren
Was in den letzten Jahren besonders auffällig war, war die verstärkte Konzentration auf das, was man schwer definieren kann, ohne ganz tief in mehrere Genreschubladen zu greifen: Melodischen Post-Hardcore, gemischt mit Post-Emo, Post-Punk und Rock, teilweise durchaus radiotauglich, aber stets in Erwartung von Shouts und spürbarem Härterwerden. Zuerst wären hier die sträflich unterschätzten Komplizen der Spielregeln aus Köln, deren 2009er Album „Es wird nur noch geatmet“ mit „Lorem Ipsum“ einen der besten Songs des Jahres enthielt, zu nennen. Die Sachsen Mikrokosmos23 liebäugelten auf ihrem ersten Album „Memorandum“ (2010) noch mit klassischem Emo, auf dem letztjährigen Nachfolger „Alles lebt. Alles bleibt“ klingen sie schon deutlich poprockiger. Der etwas in die Jahre gekommene 1-2-3-Punkrock von Pascow auf „Alles muss kaputt sein“ (2010) bespielte eher ein alternatives Die Ärzte-Publikum. In eine andere Kerbe schlagen die wunderbaren Love A mit Post-Punk auf „Eigentlich“ (2011) und „Irgendwie“ (2013), auch Käfer K lassen sich mit ihrem frei downloadbaren Album „Von scheiternden Mühen“ (2011) in dieses Genre einordnen. Das 2012 erschienene, dritte Album von Captain Planet, „Treibeis“, wartete mit Emo-inspired Rock auf, wurde sehr gut rezensiert und landete auch ein paar kleine Hits. Auch Keine Zähne im Maul aber La Paloma pfeifen aus Kiel konnten mit „Leb so, dass es alle wissen wollen“ aus dem Album „Postsexuell“ einen veritablen Hit 2012 landen. Der vermeintlichen Vollständigkeit halber sollen hier auch noch Der Rest und Human Abfall genannt werden, die sehr eindrucksvollen Der Weg einer Freiheit schielen zwar ab und an Richtung Punk, bleiben aber dennoch durchgängig im Black Metal kleben.
All über all diese Bands schwebt aber das Damokles-Schwert, dass die bestmöglichste deutschsprachige Post-Hardcore und 1-2-3-Punk-Platte bereits 2012 erschienen ist. Das einzig gebliebene Album „Lehnt dankend ab“ der Supergroup Frau Potz – so stand Sänger Felix Schönfuss bereits bei Escapado am Mikrofon. „Lehnt dankend ab“, nomen est omen, richtet sich auf seinen 37 Minuten gegen alles und jeden. Die als Kapuzenpullizei verspottete Szene, Musikkritiker und vor allem Hipster und Studenten. Wenn man nur eine Platte in diesem Jahrzehnt kaufen will, kann und sollte es die von Frau Potz werden. Ein Referenzwerk für alles, das noch kommt.
2014
Nun – endlich – aber zum Kern dieses Artikels: Warum braucht es Die Nerven als Coverboys für aktuell erscheinende deutschsprachige Rockmusik? Gibt es da nicht noch viel mehr Bands, die den vermeintlichen Thron in Anspruch nehmen können? Die Antwort liegt natürlich auf der Hand: Ja.
Zum einen wären da die Münsteraner Messer. Bereits mit ihrem 2012 erschienen Erstling „Im Schwindel“ von diversen Medien in den Himmel gelobt, folgte im November des vergangenen Jahres der Nachfolger „Die Unsichtbaren“. Produziert von Szenegott Tobias Levin, der sowohl Stammproduzent von Tocotronic ist, als auch beim neuen Ja, Panik-Album hinter den Reglern saß, versucht sich Messer erfolgreich an einer Neudeutung von Post-Punk und Cold Wave, wobei man insbesondere auf die oben angesprochenen Säulenheiligen Joy Divison und auch The Fall reflektiert und damit ein sehr kaltes und industriell anmutendes Klangbild. Der auf dem Erstling noch allgegenwärtige Einfluss der Ikonen Rachut und Müller – so nennt Sänger Hendrik Otremba „1914!“ von Campingsex als seine wichtigste Platte – wird peu a peu zurückgestellt, die 80er finden auf „Die Unsichtbaren“ größtenteils jenseits des Ärmelkanals statt.
Auch die Hamburger Post-Punker und Indierocker Trümmer sind, obwohl ihr erstes Album erst im Laufe des Jahres erscheinen wird, wohl der nächste Favorit in den Kreisen der Neigungsgruppe deutschsprachiger Musikfreunde. Das sieht auch Andreas Spechtl, Ja, Panik-Sänger und Michael Corleone des deutschsprachigen Pop – in Analogie zum Paten Vito Corleone, der je nach Geschmack entweder Dirk von Lowtzow oder Jochen Distelmeyer ist – so, in einem Interview nannte er neben Die Nerven und Messer auch Trümmer als Bands, die er gut und sympathisch findet. Der vierte Platz beim Spex Leserpoll in der Newcomer-Kategorie lässt einiges für die Zukunft hoffen, die 2013 veröffentlichte limitierte Single „In all diesen Nächten / Der Saboteur“ trägt das Übrige dazu bei.