Es ist ganz schön widersprüchlich: Nie gab es mehr Realitäten, aber nie war so viel unreal, fake. Die Gruppe Die Nerven kennt sich mit Widersprüchen aus.
Nichts ist mehr wahr, nichts wie es war. Alles ist inszeniert, verfälscht, fake. Den Nachrichten traut ohnehin kein Schwein mehr, ja, sogar die Kandidatinnenkrisen bei »GNTM« sind gar nicht echt. Hyperrealitäten entsponnen aus erweiterten Realitäten, unsoziale Medien organisieren reale Treffen in virtuellen Räumen. Es lebe nicht mehr der Tod, es lebe die marktkonforme Verwertung kultureller Erfahrungen, die Kommerzialisierung des Selbst.
Kommerz und Pop, Abgrenzung und Paradoxie, Realität und deren Verweigerung, »fake« und »real«: Themen, mit denen die Gruppe Die Nerven seit jeher operiert. In den drei Jahren seit dem Vorgänger, dem spaßbefreiten »Fun« – Muster erkennbar? –, haben sich Superproduzent Max Rieger, Peter Muffin aka Julian Knoth und Sonnyboy Kevin Kuhn weit und fern rumgetrieben, haben gefühlt Abertausende Konzerte gespielt, waren in anderen Projekten involviert, haben dann als Die Nerven geprobt und geschrieben. Sind wie Hannibal über die Alpen spaziert, waren in der viel zu untypischen Toskana, um in nur zwei Wochen mit Szenepapst Ralv Milberg ihr viertes Album aufzunehmen.
Poppig, aber hart
Apropos Paradoxien: Selten klang die Gruppe so vermeintlich poppig, beim ersten Hören zumindest. Denn spätestens beim zweiten Mal, allerspätestens beim x-ten Mal empfindet man »Fake« als das bislang »härteste« Werk der Gruppe. Kuhn gibt kräftig Dresche, Knoth zaubert allerdunkelste Postpunk-Basslinien aus dem Viersaiter und, wenn es ihn denn mal juckt, malträtiert Max Rieger seine Gitarre fast schon metallisch und gewitternd.
Man muss sich die leisen Parts verdienen, die akzentuierte Dynamik – tendenziell aber alles eher sehr laut – beeindruckt. Der Entstehungsprozess soll den Stuttgartern alles abverlangt haben, heißt es. Dem Publikum darf es gar nicht anders gehen. Gegenseitige Abreibung als Zweck des Ganzen. Die Aufopferung des Selbst gegen die Selbstkommerzialisierung von allen anderen. Wahrhaftiges Sein gegen den ganzen Fake-Scheiß da draußen. Und auch wenn Authentizität ein ähnliches Unwort ist wie das ausgestorbene »postfaktisch«: This is as real as it gets.
»Fake« von Die Nerven erscheint am 20. April 2018 bei Glitterhouse Records. Am 29. April beehren Rieger, Knoth und Kuhn das Fluc in Wien.