Diese Story hat einen Bart

Der Schnurrbart war so Nullerjahre, der Vollbart ist jetzt. Von Bin Laden bis Bon Iver lassen Männer den Rasierer im Schrank und greifen zur haargewordenen Gegenmoderne. Man sollte sich daran gewöhnen.

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Die Entscheidung zwischen Rasur und Bartwuchs kann auch eine ganz pragmatische sein. Der Legende nach entschied sich Stanley Marcus, schwerreicher Besitzer eines Luxuskaufhaus‘ in Dallas, durch eine simple Rechnung für einen Vollbart: Er hatte zusammengezählt, dass er im Jahr zwei volle Tage nur mit der Rasur beschäftigt war. Meist sind es aber eher ästhetische Gesichtspunkte. Doch wer jetzt denkt, dass es da nur darum geht, ob ein Mann mit Bart gut oder schlecht ausschaut, irrt.

Real men don’t shave

Soziologisch gesehen ist Mode (also auch Körpermodifikation) eine Möglichkeit, den Naturzustand in eine idealisierte Realität zu überführen. Vor allem in klar maskulin besetzten Stilelementen transportiert sich das symbolische Kapital nach Bourdieu. Der Bart wächst ab der Pubertät ein Leben lang und ist evolutionsbiologisch ein Rudiment des Fells. Damit ist er ein Symbol der animalischen Trieb- und Lebenskraft, der sexuellen Reife und des damit verbundenen Machtanspruch. Klingt scheiße, ist aber so. Im alten Ägypten war es vom Rang des Trägers abhängig, wie lang der Bart des Trägers sein durfte.

Trotzdem ist kulturelle Bartgestaltung ist so alt wie der Bart selbst. Die Techniken und Werkzeuge mögen sich von der Obsidianklinge über das Schnurrbartwachs bis zur modernen Haarschneidemaschine entwickelt haben, ebenso wie die Bartformen vom reinen Abschneiden bis zu den bizarren Kaiser Wilhelm-Formen des Historismus reichen. Die "Zähmung" des Bartes ist dabei ein wichtiger Schritt: Es geht nicht darum wie ein Neanderthaler auszuschauen, sondern den Neanderthaler ins 21. Jahrhundert mitzunehmen.

Die Bärte des 21. Jahrhunderts

Vor allem die zweite Hälfte der Nullerjahre verzeichnete eine Rückkehr des Schnurrbarts. Die Hipster stahlen die Rotzbremse, die man jahrzehntelang nur mit dem 10:30 Uhr-Bier in der Hand oder auf einer Gay-Party ernsthaft tragen konnte, in ihrem nimmermüden Drang nach ironischer Plünderung und machten sie zu ihrem Erkennungszeichen – zumindest in der medialen Wahrnehmung.

Der König der Bärte ist und bleibt aber der Vollbart. Er macht mehr Arbeit als man denkt (wer einmal einen hatte, weiß was gemeint ist), steht aber trotzdem für das Ursprüngliche, das Wilde und das Ungezähmte. Der Vollbartträger kümmert sich nicht um Moden und verbringt seine Zeit lieber an der Akustikgitarre als im Badezimmer. Der Vollbart ist das Symbol der Hippies, Gurus und Al-Quaida-Terroristen. Gelebte Gegenmoderne. Nicht umsonst lassen v.a. Bands und Musiker wie die Fleet Foxes, Bon Iver oder Scott Matthew den Rasierer gerne mal Rasierer sein.

Auch wenn er sich in den letzten Jahren auch ironisch gebrochen getragen wird und sich in eher ungewöhnlichen Kreisen verbreitet hat (als Beispiel seien hier Stalley und Wolves in the Throne Room genannt, wobei letztere ja ohnehin dem Genre „Hipster-Black Metal“ zugeordnet werden), bleibt der Vollbart seit Andreas Hofer die Uniform der Retro-Soldaten.

Retromania und falsche Bärte

Das wird vermutlich auch so bleiben. Man muss Simon Reynolds kulturpessimistischer Haltung in seinem Buch Retromania nicht mal folgen, um vorauszusagen dass Musikrichtungen wie Folk-(Rock) nicht aussterben werden. Und viele der Protagonisten der nächsten Welle vermutlich wieder eine Kombination aus Holzfällerhemd und Vollbart tragen werden, die wie keine zweite für diese musikalische Ära steht.

Die (teilweise unbewusste) Assoziation von Bärten mit Testosteron muss aber nicht zwingend dazu dienen, die gute, alte und ehrliche Zeit heraufzubeschwören. Manchmal taugt sie auch zum Schockeffekt. Nicht zufällig trägt Peaches, die (völlig subjektiv) klügste feministische Künstlerin, auf dem Cover ihrer LP „Fatherfucker“ einen Vollbart. Sie weiß offenbar wie wichtig die Gesichtsbehaarung den Männern ist. Und sie tut gut daran: Laut einer Umfrage wären 13 % der Bartträger bereit, nach einem Unfall eine Barttransplantation vornehmen zu lassen.

Wen das Thema weiterführend interessiert, liest in dieser Dissertation, aus der ich einige Infos entnommen habe:

http://www.chemie.uni-hamburg.de/bibliothek/2005/DissertationWietig.pdf

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