Vince Aletti war der erste Autor, der über Disco berichtete – und den DJ als Künstler verstand. Der Chronist der Ära über Aufstieg und Fall einer der bis heute einflussreichsten Formen moderner Tanzmusik.
(… die Fortsetzung und Teil 2 des Interviews. Teil 1 gibt es hier.)
Als sich Disco in den frühen Siebzigern herausbildete, waren die USA in einer Rezession, es gab viele soziale Spannungen, New York stand vor dem Kollaps. Haben diese Umstände Disco beeinflusst?
Ein Club wie „The Loft“ hatte insofern direkt mit diesen Umständen zu tun, als die Leute nicht viel Geld hatten, aber trotzdem ausgehen wollten und daher gewillt waren, in den Underground zu gehen. Keine glitzernde Angelegenheit wie das „Studio 54“. Aber ich denke nicht, dass es allzu direkte Verbindungen gab. Die Leute gingen immer aus und wollten tanzen. Sie tendieren dazu, das größere soziale und politische Konstrukt um sie zu ignorieren.
Der Musikkritiker Peter Shapiro schrieb: „Disco war der letzte große Aufschrei des Liberalismus, die letzte große Party vor der neokonservativen Apokalypse.“
Ein interessanter Blickwinkel. Es war definitiv eine Zeit der Aufregung, des Hedonismus, des Eskapismus, der Befreiung. Und Disco war sicher ein Dorn im Auge der Konservativen. Aber die Sache ist die: Disco hörte nie auf zu existieren, sondern nahm andere Formen an und ging weiter. Madonna kam unmittelbar nachdem man annahm, Disco sei vorbei. Die Pet Shop Boys und die britische New Wave hatten Wurzeln in Disco. Für mich war Disco nicht vorbei. Vieles passierte nun wieder im Underground.
Stichwort Eskapismus: Eine oft gehörte Kritik lautete, dass es bei Disco nur darum ging.
So war es auch! Es drehte sich stark um Eskapismus. Zugleich ging es um großartige Musik. Das eine schließt das andere nicht aus. Es ging sehr stark darum, sich selbst fallenlassen zu können, in der Musik. Vor allem bei der Erfahrung im Club ging es um Eskapismus: Dort konnte man alle Probleme, jeglichen Druck, einfach alles, was außerhalb vor sich ging, hinter sich lassen. Das war großartig. Es ist wichtig, dass es solche Orte gibt. Und es gab sie nicht nur für eine kleine Underground-Elite, sondern für eine viel breitere Bevölkerungsschicht: das war ein Teil der Faszination von Disco. Gleichzeitig war aber genau das etwas, was vielen übel aufstieß. Dieser weitverbreitete Hedonismus war vielen Leuten zuwider.
Zu Beginn waren die Clubs eher demokratisch. 1977 eröffnete dann das „Studio 54“– und mit ihm nahm ein gewisser Elitarismus Einzug. Nicht jeder durfte rein.
Auch wenn viele andere Clubs privat geführt wurden oder nur für Mitglieder zugänglich waren, fühlten sie sich wesentlich offener an als das „Studio 54“.
Führte dieser elitäre Ansatz zu Umwälzungen auf dem Planeten Disco?
Was sich änderte, betraf nicht die Musik. Die lief weiter wie gewohnt. Aber „Studio 54“ kannten auch die, die nicht hingingen. Es wurde ein Medienphänomen und brachte Disco ein neues Maß an Aufmerksamkeit. Viele Clubs weltweit imitierten dieses Modell, die „Velvet Rope“-Idee wurde schrecklich. Bis heute. Eine schlechte Entwicklung. „Studio 54“ war aber nur ein kleines Segment, nicht repräsentativ für das, was zu der Zeit in New York abging.
Etwa zur gleichen Zeit öffnete mit der Paradise Garage ein bis heute kultisch verehrter Underground-Club. War für dessen Publikum das Studio 54 ein Feindbild?
Nur zum Teil. Denn es gab Leute, die in beide Clubs gingen – sofern sie ins Studio reinkamen. Studio 54 war aber definitiv der Gegenpol zur Paradise Garage. Viele Leute dachten: Das ist nicht das, was wir uns unter Disco vorstellen. Es ist nicht die Richtung, in die sich Disco entwickeln sollte.
Erzählen Sie von Larry Levan, dem DJ der Paradise Garage. Er gilt vielen als der einflussreichste DJ der Disco-Ära.
Larry Levan war sehr wichtig und einflussreich. Ob er der beste DJ war, will ich nicht beurteilen. Die Leute liebten die Paradise Garage. Es war eine wundervolle Szene. Und Larry hatte sie unter Kontrolle. Er war nicht zuletzt deswegen so einflussreich, weil er zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Jeder Promoter steckte ihm die neuesten Platten zu. Einige sehr wichtige Radioleute hörten auf ihn. Sie kamen in seinen Club und schickten die Platten, die er spielte, am nächsten Tag über den Äther. Dadurch hatte er viel Macht, mehr als alle anderen im Geschäft.
Erinnern Sie sich an den 12. Juli 1979?
Nein.
Es war der Tag, als in Chicagos Comiskey Park das so genannte „Disco Demolition Derby“ stattfand, bei dem Tausende Disco-Platten öffentlich verbrannt wurden.
Nein, in keiner Weise, aber es taucht immer wieder auf. Und war sicher folgenschwer für Disco. Es verwirrt mich, dass ein so negatives Ereignis so viel Bedeutung bekam. Es war ein Ventil für eine Menge Ressentiments, gerade unter Rock’n’Roll-Radio-DJs, die nur zu glücklich waren, Disco verschwinden zu sehen. Disco veränderte die Charts von sehr „weiß“ zu „gemischt“ und öfter zu sehr „schwarz“. Disco hat in der Hinsicht einige ethnische Barrieren niedergerissen. Viele konservative Rock-DJs haben sich nie daran gewöhnt. Ihnen gebe ich die Schuld am Niedergang von Disco im Radio.
Aber Disco verschwand nicht gänzlich und zog sich in den Underground zurück.
Genau. Und änderte den Namen. Ich arbeitete damals bei Warner Brothers für ein kleines Label namens RFC, verantwortlich für das „Disco Department“. Dann änderte sich unser Name in „Dance Music Department“. Disco war plötzlich ein Schimpfwort.
Sahen Sie diesen Rückschlag voraus?
Nein, genauso wenig wie den Höhenflug. Klar, die Erfolgswelle konnte nicht ewig weitergehen. Aber der Rückschlag war viel bösartiger, als ich erwartet hatte. Viele Dinge an Disco mochten die Leute nicht. Disco wurde überwiegend als schwule Musik wahrgenommen, obwohl das nur ein Teil war. Bis zu einem gewissen Grad war Homophobie dafür verantwortlich, dass so viele Leute das Ende von Disco herbeisehnten.
Nachdem sich der Mainstream von Disco abgewandt hatte, erfuhren die verbliebenen Akteure eine neue künstlerische Freiheit. Es war auch die Zeit, als Disco und Punk für einige Momente zusammenfanden.
Die beiden prallten aufeinander und es gab ein paar spannende Platten. Vieles entstand, was früher undenkbar gewesen wäre. Es war eine Zeit, in der wieder alles möglich war und man sich an keine Regeln, wie Disco zu klingen hat, halten musste. Die Leute experimentierten mehr. Für mich wurde Disco wieder zu dem, was es zu Beginn war: Diese bizarre Musik, in der alles möglich war, so lange man dazu tanzen konnte.
Welche Platten aus der klassischen Periode von Disco haben sich am besten gehalten?
Eines meiner Lieblingstücke und eine der Nummern, die mich immer noch begeistern und die immer noch funktionieren, ist MFSBs „Love Is The Message“. Eine großartige Nummer, sehr Disco, kaum Lyrics, aber viel, viel Emotion. Für mich klingt das Stück, heute genauso gut wie vor 35 Jahren. „Love To Love You Baby“ von Donna Summer klingt mittlerweile datiert. „I Feel Love“ hat sich viel besser gehalten und klingt immer noch fantastisch.
In den letzten Jahren gab es eine Disco-Renaissance. Kurz vor Ihrem Buch veröffentlichten Hercules & Love Affair das beste von Disco inspirierte Album seit Langem. Wie gefallen Ihnen Hercules & Love Affair?
Ich finde sie großartig. Hercules & Love Affair sind auch deswegen so fantastisch, weil sie nicht nur alte Erfolgsmuster nachstellen. Weniger die Musik selbst als ihr Spirit ist in der Zeit von Disco verankert: Dance Music im weitesten Sinn. Das Album besticht mit so vielen verschiedenen Sounds, mit so vielen verschiedenen Emotionen, ohne irgendetwas zu imitieren. So zurückzukommen ist das Beste, was Disco passieren kann.
Ein paar Jahre davor kam Disco in der Form von Madonnas „Confession On A Dancefloor“ zurück. Was hielten Sie davon?
Dafür konnte ich mich nicht besonders begeistern. Ich liebe Madonna. Sie hat Disco von Beginn an absorbiert und Dancemusic war immer etwas, das ihre Musik angetrieben hat. Aber dieses Album zählt nicht zu meinen Favoriten.
Woher stammt die Begeisterung von Nachgeborenen für die Disco-Ära?
Hoffentlich von der fantastischen Musik! Es gab immer Platten-Fanatiker, die sich einer bestimmten Periode regelrecht obsessiv widmeten, die alles darüber wissen wollten. Ich weiß, dass einige Menschen primär an meinem Buch interessiert sind, weil es voller Playlists der damaligen DJs ist. Und ich habe gehört, dass viele sofort online gingen, um all die erwähnten Platten zu lokalisieren.
Vince Aletti, Jahrgang 1945, schrieb von 1974 bis 1978 in seiner Kolumne »Disco Files« wöchentlich über neue Platten, Clubs und DJs. Später arbeitete er als A&R-Manager beim Disco-Label RFC. Heute ist er Fotokritiker des Magazins »The New Yorker« und kuratiert Fotoaustellungen. Das Buch »Disco Files 1973-78« (erschienen bei DJ History) versammelt alle seine Kolumnen und frühen Artikel über Disco.