Alle Jahre wieder blickt unsere Redaktion auf die popkulturellen Highlights der letzten zwölf Monate zurück. Mit streng subjektivem Blick. Was Dominik Oswald aus 2022 besonders in Erinnerung bleiben wird, könnt ihr hier nachlesen.
An Ort und Stelle ein ganzes Jahr Revue passieren zu lassen, ist immer eine Herkulesaufgabe, weil man sich ohnehin schon in den zwölf Monaten davor bibliothekenweise Münder fusselig gequasselt hat, dass ein Fusselroller da noch weniger hilft als bei einem Rotweinfleck. Aber, ganz kurz zusammengefasst: 2022 war ein komisches Jahr, jedoch nicht unbedingt im Sinne des Komödiantischen, sondern eher im Sinne des Seltsamen, in dem Hemmschwellen und Niveaus häufig im Tagestempo gesunken sind.
Nicht ganz so schnell, aber dann schlussendlich doch in einer gewissen Menge, hat auch das musikalische Jahr Großtaten ergeben. Solche, die einfach nur Spaß machen, aber auch und vor allem solche, die genau sämtliche Verfälle ankreiden. Die vermeintlich besten – für mich – folgen nun.
Top 10 Singles / Songs des Jahres
10. Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys – »Miami Beach«
Die wunderbare Gruppe aus Augsburg, die seit zwei Jahren mehr Herzen erobert als selbst der erfolgreichste Italo Ragazzo ist nicht immer nur Amore pur, sondern beweist in ihrem besten 2022 veröffentlichten Song, dass sie auch gar großartige Trennungshymnen – Sex mit der Ex? – schreiben und gleichzeitig nicht nur Italien kann. Merk dir das, für den nächsten US-Trip: »Baby, der Lido heißt hier Beach!«
9. Acht Eimer Hühnerherzen – »(Durch meine viel zu große) Brille (kann ich dich jetzt auch nicht besser sehn)«
Kreative Bandnamen sind einerseits super, aber auch Fluch und Segen zugleich: So würden wohl nur die wenigsten den bumssympathischen Berliner*innen herzerwärmenden Powerpop und vor allem so einen einfühlsamen, mitfühlenden und gleichsam unsentimentalen Trennungssong wie »Brille« zutrauen, der nicht nur wegen seiner beiden (!) Klammertexte herausragend und äußerst stimmig ist.
8. Hotel Rimini – »Hapag & Lloyd«
Die Leipziger Supergroup Hotel Rimini versteht es auf ihrer ersten EP, die üblichen Versuche des Scheiterns von Quarterlife-Kriselnden in der Großstadt in melancholischem Liedgut zu erfassen wie in diesem Jahr sonst niemand. Das beste Beispiel, »Hapag & Lloyd«, erzählt von der Entfremdung von »zu Hause« gebliebenen Freunden der Adoleszenz, vom Häuserbauen und Kinderkriegen statt der ständigen Angst vor Zwangsräumung und dem nächsten Tinder-Date. Relatable!
7. Danger Dan – »Filmriss«
Wer die Regeln zu genau auslegt, wird nie etwas ändern. Das machen wir – der Cover(!)-Song kam bereits zu Weihnachten ’21 raus – also nicht. Und Danger Dan sowieso nicht. Dieser spielt mit seiner reduzierten und gleichsam leidenschaftlichen Pianoversion dieses Punkklassikers zwischen Ekstase und Kloß im Hals auf der schwarzweißen Gefühlsklaviatur – und eröffnet damit auch Knochenfabrik eine breitere Zielgruppe. Es gibt kein richtiges Leben in Flaschen.
6. Dina Summer – »Rimini«
Wer noch nie seinen Urlaubsort wegen eines Songs ausgewählt hat, werfe den ersten Stein. Von mir werdet ihr keinen sehen. Dieser retrophile Italo-Disco-Song mit wunderbaren Keyboards und nonchalant-monotonen Vocals ist Inspiration, Motivation und Relaxation in Reinkultur und gehört am besten in ein kleines Cabrio, die Küste rauf und runter. Ein Soundtrack des Sommers und Spätsommers, vermutlich auch noch im nächsten Jahr.
5. Laundromat Chicks – »You’re on the Line«
Wenn die Kunst der Ausdruck des Menschen ist und der Mensch die Summe seiner Erfahrungen, gilt es zu konstatierten, dass die vier jungen Wiener*innen der Shootingstars Laundromat Chicks so ziemlich viel richtig gemacht haben in der musikalischen (Selbst-)Erziehung. Ihr Smash-Hit »You’re on the Line« ist ganz große Musikwelt, hätte 1991 genauso funktioniert wie 2022 oder 2050.
4. Die Verlierer – »Mann im Mond«
Hinter dem wunderbaren Namen Die Verlierer stecken die Mitglieder von Chuckamuck und Maske, die bereits mit ihrer ersten Single einen dunklen Schatten über ihre Heimatstadt Berlin legen – natürlich mit dunkelgrauem Postpunk früherer Spielart, der sich aber auch auf »Disintegration« ziemlich gut machen würde. Wahn, Paranoia, Überwachungsstaat und Beklemmnis hinter nur unzureichenden Neonlichtfassaden der Großstadt.
3. Voodoo Jürgens – »Federkleid«
Dass der Voodoo Jürgens mittlerweile der wohl größte Songwriter dieses Landes und dieser Sprache ist, darf an Ort und Stelle als bekannt vorausgesetzt werden. Das zeigt sich vor allem in den langsamen Stücken auf Album Nummer drei. Der schleppende und scheppernde Antifolk einer spielverliebten Band passt perfekt zu »Federkleid«, dieser poetischen Elegie auf die Vergänglichkeit des Lebens – und von einem selbst.
2. Die Nerven – »Ich sterbe jeden Tag in Deutschland«
Richtig super ist es nirgendwo auf der Welt, in Deutschland nicht und in Österreich schon gar nicht. Die vermutlich beste Gruppe der Welt – weil irgendwas muss es ja geben, was man gut finden kann – schafft mit wenigen Worten, viel berechtigter Wut im Bauch und im Saitenanschlag einen Abgesang auf die soziale Dunkelheit und Kälte eines sogenannten Wohlfahrtsstaats, der nur mehr für Unwohlsein steht und folgerichtig untergehen soll – und früher oder später wird. »Deutschland muss in Flammen stehen / Ich will alles brennen sehen.«
Einschub: Honorable Mentions (alphabetisch gereiht)
Die Arbeit – »Wandel«
Die Wände – »Der Mondmensch«
Ein Gespenst – »The Smiths«
Krause Glucke Weltverschwörung – »Fresse halten«
Pauls Jets – »Lazy Generation«
1. Vienna Rest in Peace – »Album für die Jugend«
Die Kulmination von lyrischem Ausdruck für alle Schwerstmelancholiker*innen. Würde ich an so etwas glauben, würde ich mir in diesem Jahr nur eine Zeile Text in die Haut ritzen/brennen lassen: »Wir waren doppelt so traurig wie Kurt Cobain«, die mich seit dem ersten Hördurchgang begleitet wie ein trostspendendes Gute-Nacht-Gebet (würde ich daran glauben). Mit pointiert geschlagener Gitarre und fulminantem Crescendo wird von den Entbehrungen der Jugend erzählt, vom Wollen und dann eher doch nicht können, von Robert Schumanns Lebens-, Leidens- und Liederzyklus. Ein so ungewöhnliches Thema für einen eigentlichen Popsong, aber so passend für dieses Jahr, diese Band und diesen Hörer. Tieftraurig und gleichsam heilsam.
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