Erschütternd aktuell ist Olivia Axel Scheuchers neue Produktion »Lost (du weißt wieso)«, die ihre Uraufführung am 17. September im Kosmos Theater Wien hatte. Auf humorvolle und teils abstrakte Weise werden hier Themen von Klimawandel und Eigentum bis hin zu Trauer und »Trad Wives« dargestellt. Dabei nimmt das Stück stets eine kritische Perspektive ein, die das Publikum zum eigenen Nachdenken anregt.
Gerade nach diesem Wochenende sind Bilder von Überschwemmungen und Fluten für uns so nahe und frisch wie selten. Auch am Weg zum Theater gibt es erneut einen kurzen Regenschauer, der allgemeines Murren auslöst. Wir haben genug vom ständigen Regen. Fast schon hellseherisch wirken daher die zentralen Motive von Olivia Axel Scheuchers »Lost (du weißt wieso)«: eine Mure, Zerstörung, Lebensrealitäten angesichts der Klimakrise. Vielleicht sind solche »Jahrhundertfluten« auch gar nicht mehr so unvorhersehbar und selten, wie man einst dachte. Extremwetter, Rekord-, und Jahrhundertregen – sie sind in unseren Alltag gedrungen.
»Lost (du weißt wieso)« beschäftigt sich konkret mit den Muren im Juli 2012 in St. Lorenz in der Steiermark sowie deren Folgen. In der Inszenierung wird das geerbte Haus der Großmutter unter dem grauen Schlamm begraben. Es beginnt eine Auseinandersetzung mit Trauer, Verlust und dessen Verarbeitung. Gleichzeitig werden Eigentum und Erbe, Mental Health, Religion, Dazugehörigkeit und die Romantisierung der Vergangenheit anhand von Gegenständen thematisiert. Dabei fließt das wie selbstverständlich wirkende Handyverhalten der jüngeren Generation in die Performance mit ein. Ablenkung durch Doomscrolling, Sprachnachrichten der Freundin, die gerade einmal oberflächlich Mitleid zeigen. Mehr als einmal kommt es zu plötzlichen, sehr unterhaltsamen Musikeinlagen, die durch ein Instagram-Reel oder ein Tiktok-Video ausgelöst werden. Dabei wirken die Verhaltensweisen und Bewältigungsstrategien, aber auch die Sorgen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen vom Stück ernst genommen. Schließlich geht jede Person anders mit Verlust um.
»My grief is extravagant«
Getragen wird das Stück von den drei Performer*innen Luca Bonamore, Nada Darwish und Lara Sienczak – und für ein paar Szenen zusätzlich unterstützt von Heidi Scheucher. Grau ist das Bühnenbild, außer der braunen Bauklötze, die den Grundriss eines Gebäudes abbilden und immer wieder neu positioniert werden. Grau ist das Gewand, inklusive der Gummistiefel, »ein Traueraufzug in Funktionskleidung«. Innerhalb dieses Rahmens, in deutschen und englischen Texten, wird durch und mit diesem Verlust des großmütterlichen Hauses eine große Bandbreite an Themen behandelt. Was bleibt von einer Person zurück, wenn sie tot ist? Was von ihr steckt in ihren Hinterlassenschaften, in ihrem Haus? Welche Trauer ist beim dessen Verlust angebracht und wer kann das entscheiden? Die Vergangenheit und das zerstörte Haus werden romantisiert, die potenziell zukünftig-historischen Artefakte sollen nicht vom Bagger auf den Sperrmüll verfrachtet werden. Was bleibt von uns einmal übrig? Unsere Wohnung, deren Mietvertrag bald abläuft? Wie war das früher?
Während Heidi Scheucher von einem wenig wohlhabenden Leben auf einem Bauernhof bis in die 80er erzählt, ahmen die drei jüngeren Schauspieler*innen diesen Lebensstil Instagram-ready nach. Die Hafermilch wird in eine leere Kuhmilchpackung geleert und dann in einen Eimer, die Butter – so wird behauptet – »from scratch« selbstgemacht. Im letzten Moment wird dann doch eine verpackte Butter genommen und herzhaft abgebissen (um dann auch wieder ausgespuckt zu werden). Das Alles passiert als ein Kommentar zu den sogenannten »Trad(itional) Wives« und ihrer scheinbaren Rückkehr zu traditionellen Geschlechterrollen. Dieser proklamierte Hang zu Tradition wird jedoch als Schein und Marketingstrategie entlarvt.
Die illusorische Andersartigkeit von Mensch und Natur
Trotz des offensichtlichen Zusammenhangs wird das Thema Klimawandel erst nach etwa einer Stunde direkt angesprochen. In »Lost« wird die Natur aktiver Teil des Geschehens, die Mure, die Flut sind Agent*innen der Handlung. Dabei wirken sie zuerst als durch und durch negative Kraft, die so viel Zerstörung mit sich bringen. Doch erst durch diese Zerstörung wird ein Neuanfang – ein eigenes Einfamilienhaus – möglich. Plötzlich ist die Zerstörung ein Segen, eine Möglichkeit der Flucht aus der engen, stickigen Mietwohnung. Eine Rückkehr in das fremd gewordene Zuhause, zurück zur Natur. »Warum fühle ich mich so lost, wenn ich einen Baum sehe?«, fragt Luca Bonamore sich. Weil Bäume so weit weg von der eigenen Lebensrealität in der 40-Quadratmeter-Wohnung in der Stadt sind, dort wird der Raum zum Gehege. Es ist ein Privileg, dem Entfliehen zu können, was Lara Sienczak anspricht, wenn dey mit den Worten schließt: »I’m really lucky.«
»Lost (du weißt wieso)« bietet nicht nur einen sehr unterhaltsamen und unglaublich (oder auch vorhersehbar) aktuellen Abend, sondern auch die Möglichkeit, sich mit vielen verschiedenen Lebensrealitäten, die im Zusammenhang mit der Klimakrise stehen, tiefer zu beschäftigen.
Die Vorstellungen von »Lost (du weißt wieso)« laufen noch bis 4. Oktober im Kosmos Theater. Es gibt am 25. September ein Einführungsgespräch und am 26. September ein Publikumsgespräch im Anschluss an die Vorstellung.