Wut ist das zentrale Gefühl des Jahres 2016. Wo bleibt da noch Platz für das Denken?
Es sind überall auf der Welt dieselben schrecklichen Bilder. Eine Masse aus Menschen mit zusammengekniffenen Augen, geöffneten Mündern und geschlossenen Geistern, die »Lügenpresse!« oder »Lock her up!« brüllt. Die unter das Video eines versuchten Selbstmords eines Flüchtlings »Viel Glück beim nächsten Mal!« in die Tastatur hämmern. Die »Gutmensch« als Schimpfwort verwenden und weiblichen »Bahnhofsklatschern« ohne mit der Wimper zu zucken eine Vergewaltigung wünschen. Diese Menschen unterscheidet viel: ihr Wohnort, ihr Alter, ihre sozioökonomische Stellung. Was sie aber gemeinsam haben: Sie sind wütend.
Die unsympathischen Wutbürger in Bautzen oder Illiniois sind aber nicht die Einzigen, die wütend sind. Auch die jungen Menschen, die auf Twitter oder Facebook ihrem Ärger über Alpha-Moderatoren oder Politiker Luft machen und sich dabei gegenseitig anstacheln, sind wütend. Alle sind wütend. Wut ist vielleicht das Gefühl, das 2016 am besten zusammenfasst.
»Empört euch!«, schrieb der damals bereits über 90-jährige Stephane Hessel den Menschen 2010 ins Gewissen. Der französische Philosoph prangerte in seinem Essay richtigerweise eine ganze Menge schlechter Dinge an: die steigende Ungleichheit, den Klimawandel, den beschränkten Zugang zu Bildung. Leider kann man fünf Jahre später ein Grundproblem identifizieren: Hessel stellt der Empörung die Gleichgültigkeit gegenüber. Diese sei das Schlimmste, was man sich und der Welt antun könne. Das stimmt, ist aber unfair. Nicht jedem, der mal eine Welle der Empörung auslässt, sind die Dinge gleichgültig. Vielleicht möchte er auch einfach nur mal eine Nacht darüber schlafen, um am nächsten Tag nach dem ersten Kaffee nach Antworten zu suchen.
Mammutjagd im Netz
Das Phänomen Donald Trump ist ohne Wut nicht vorstellbar. Und wenn man sich seine Wähler genauer anschaut, erzählt es uns ein wenig über das Wesen der Wut selbst. Es gibt durchaus Trump-Wähler, deren Zorn berechtigt ist. Vergessene Bergwerker aus Pennsylvania mit chronischer Lungenkrankheit, die ihre Arztrechnungen nicht mehr bezahlen können. Aber man kann es nicht oft genug sagen: Dass das Trumps Kernwähler wären, ist nicht mehr als ein schönes Narrativ. Der Großteil seiner weißen Unterstützer verdient kaufkraftbereinigt besser als weiße Nicht-Trump-Wähler und wohnt in Gegenden, die so divers sind wie ein Stammtisch der FPÖ Eisenstadt-Umgebung. Trump-Wähler sind vor allem gefühlte Verlierer: 70 Prozent von ihnen sagen, dass sich Amerika seit den 50er Jahren zum Schlechteren verändert habe. Wut ist eine Gefühl, das von der Wahrheit entkoppelt ist. Es kann reale Ursachen haben, muss es aber nicht.
Am anderer Stelle bekämpft man nicht Flüchtlinge, sondern ihre Feinde, tritt nicht nach unten, sondern zumindest auf selbe Höhe. Dort ist die Wut sympathischer, aber deshalb noch lange nicht unproblematisch. Wut versetzt den Menschen in den Lockdown und löscht alle Zwischentöne aus. Stresshormone wie Noradrenalin und Adrenalin werden ausgeschüttet, die Herzfrequenz steigt, Muskeln nehmen vermehrt Glucose auf. Die Aggression gegenüber der Umgebung steigt. Das sind ideale Voraussetzungen für die Mammutjagd oder die Flucht vor einem Fressfeind. Aber braucht es diesen Status wirklich, um die Gästeliste von »Talk im Hangar-7« auf Servus TV zu diskutieren? Da gerät schnell mal jedes Maß verloren, ohne das daran der einzelne Schuld wäre. Wut ist eine mächtige Waffe und kann wichtigen Zielen dienen: dem Kampf gegen das Patriarchat, den Finanzkapitalismus, die Diskriminierung. Und sie ist trotzdem auch in solchen Fällen Gegenaufklärung, weil Aufklärung etwas mit Denken, mit Verstand zu tun hat. Die Wut will aber eigentlich nicht denken, nicht verstehen, sondern hat die Antworten schon.
Im Netz nimmt die Wut unterschiedliche Formen an. Sie kann sich in ekelerregenden Kommentaren manifestieren. In widerlich tiefen, sexualisierten Beleidigungen gegenüber Andersdenkenen und Frauen, die sich erdreisten, eine Meinung zu haben. Wut ist aber genauso der Shitstorm für eine gute Sache. Da wird dann ein „unfassbarer“ Screenshot aus Standard/Presse/News/Vice völlig entkontextualisiert durch den Durchlauferhitzer soziale Medien gejagt. Shitstorms für eine gute Sache sind schwierig, weil sie natürlich keine Shitstorms sein wollen. Jeder, der sich daran beteiligt, ist ja eigentlich gegen Shitstorms. Das Wort riecht nach Mob, nach Fackeln, nach Masse. Das will man ja nicht. Deshalb ist der Shitstorm, an dem man selbst mitwirkt, immer »berechtigte Empörung«. Das Problem ist, dass die anderen das im umgekehrten Fall halt genauso empfinden. Shitstorm, das sind immer die anderen.
Die Adornisierung der Welt
Der deutsche Internetguru und Irokesenträger Sacha Lobo hielt im Juni diesen Jahres einen Grundsatzvortrag an der Uni Tübingen, in dem es unter anderem um den Verlust der Mäßigung im Netz ging. Die Mäßigung, also die Ablehnung von politischen, aber auch emotionalen und kommunikativen Extremen, sei der Kitt einer bürgerlichen Gesellschaft, die durch das Internet langsam abhanden komme. Die bürgerliche Mäßigung hatte den Vorteil, dass sich die Menschen früher geschämt hätten, Kommentare in der Öffentlichkeit abzugeben, die sie heute im Vorbeigehen fröhlich unter ein Strache-Facebook-Posting klatschen. Sie hatte aber auch einen Nachteil. Und an dieser Stelle wird die Kritik der Wut durchaus problematisch. Sie ist nur dann akzeptabel, wenn man das aktuelle Gesellschaftsmodell für fehlerhaft, aber grundsätzlich in Ordnung hält. Unaufgeregte Revolutionen gibt’s nicht, und Wut kritisiert sich leichter, wenn man einer dieser berühmten weißen, heterosexuellen Männer ist. Das lässt sich nicht wegdiskutieren, auch nicht mit niedrigem Blutdruck und Adrenalinspiegel.
Vielleicht ist es auch ohnehin übertrieben, Wut und Denken als kompletten Gegensatz zu sehen. Es gibt ein relativ bekanntes Zitat von Theodor Adorno, dem vielleicht bürgerlichsten aller linken Theoretiker: »Wer denkt, ist nicht wütend.« Doch das Zitat hat eigentlich noch einen zweiten, weniger bekannten Teil. »Denken hat die Wut sublimiert«. Das Denken als Vorgang, der sich seines Ursprungs in der Wut bewusst ist, sie aber auf eine neue Stufe hebt. Sie verinnerlicht hat, aber sich weigert, auf der Gefühlsebene zu bleiben, sondern sofort abstrahiert und nach Lösungen für die Probleme sucht. Ein schöne Idee. Denn letztlich geht es genau darum: irrationale Wut ist selbsterschöpfend. Wer Dinge ändern will, darf wütend sein. Er sollte der Wut das Denken aber zumindest zur Seite stellen.
Der Autor Jonas Vogt wütet auch auf Twitter @l4ndvogt.