Friseure sind die besseren Schreiber

In meinem Reporterleben durfte ich viele Originale kennenlernen. Aber ich habe noch nie einen Friseur getroffen, der Schriftsteller ist, oder umgekehrt, einen Autor, der einen Frisiersalon betreibt. Dafür musste ich erst ins Silicon Valley reisen.

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Beim US-Onlinemagazin OZY gibt es das Ressort „True Story“. Eine der besten wahren Geschichten, die ich je hörte, hat OZY-Essayist Anthony Hamilton zu erzählen – über sein Leben.

Hamiltons Texte gehören zu den meistgeklickten OZY-Beiträgen. Der 54-Jährige gilt als eine der Edelfedern Kaliforniens. Zugleich ist er Haarstylist. Allein dies wäre einen Bericht wert. Doch dass jemand mit einem solchen Sprachgefühl bis zum 26. Lebensjahr weder lesen noch schreiben konnte, erstaunt noch mehr. „Ich war Analphabet“, sagt Hamilton.

Die „True Story“ des Anthony Hamilton hat einen traurigen Einstieg. „Meine Kindheit war unglücklich und deprimierend“, sagt Hamilton in seinem Barbershop, Castro Street 364, Mountain View. Die Eltern sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie sich nicht um Anthony kümmern: „No love, no education.“ Ein sadistischer Lehrer demütigt und schlägt das Kind regelmäßig in der Schule. Anthony lungert auf den Straßen seiner Heimatstadt Dallas herum. Als er bereits 19 ist, entdeckt seine Mutter: Der Sohn ist „illiterate“, kann nicht einmal den eigenen Namen schreiben.

Anthony zieht vom ungeliebten Texas ins sonnige Kalifornien. Das Einzige, das er kann, hat er von einem Kumpel auf der Straße gelernt: Haare schneiden. Er geht von Haus zu Haus und fragt, ob jemand eine neue Frisur will. Nach wenigen Wochen bekommt er seinen ersten fixen Job bei einem Haircutter.

Aus Scham wird er ein Meister im Verbergen und Vertuschen, niemand soll wissen, dass er keinen einzigen Buchstaben kennt. Bis Anthony, inzwischen fünffacher Familienvater, eines Tages an einer Buchhandlung vorbeikommt und sich schwört: „I do it.“ Er geht in das Geschäft und nimmt irgendein Buch vom Stapel an der Kasse: „The End of Youngblood Johnson.“

Der Roman handelt von einem Junkie, der es schafft, von der Straße wegzukommen, die Sucht besiegt und als Schriftsteller seine Erfüllung findet.

Als Autodidakt bringt sich Anthony das Lesen bei. „Ich brauchte sechs Monate für 300 Seiten, für eine Seite manchmal einen halben Tag. Ich habe mich gefühlt wie ein Kind, das die Welt neu entdeckt. Und am Ende wollte ich nur eines: Schriftsteller werden wie die Hauptfigur in diesem Buch.“

Sein erstes Gedicht schreibt er für eine Kundin, „eine junge Frau, die mit ihrer Mutter zum damaligen Zeitpunkt seit sechs Jahren nicht gesprochen hat. Ich habe zu ihr gesagt: Erzähl mir 20 Dinge über deine Mum, die niemand außer dir weiß. Dann habe ich für sie ein paar Zeilen geschrieben.“ Einen Monat später habe sich die Frau bei ihm heulend bedankt: „My mother and I have a good relationship now.“

Irgendwann kommt auch der damalige CNN-Star und heutige OZY-Boss Carlos Watson als Kunde in Anthonys Barbershop: „Ich habe ihm eines meiner Gedichte gezeigt. Und weißt du, was Carlos gesagt hat?“ Anthony lacht aus tiefstem Herzen. „Carlos fragte mich: ,Are you ready to be a star?’ Und ich darauf grinsend: ,I was born to be a star.’“ Der Beginn einer langjährigen Freundschaft.

Sechs Bücher hat Anthony seither veröffentlicht, darunter „The Autobiography of Strong Child“. Als OZY im September 2013 startet, ist der schreibende Friseur an Bord. Geschichten wie diese bewegen die mittlerweile 12 Millionen OZY-Leser: „My teacher shamed a dyslexic and illiterate me. Now I’m an author.“

Die OZY-Videoserie „In the Barbershop“, wo Anthony mit Kunden über Gott und die Welt philosophiert, hat in den USA Kultstatus. Anthonys Beitrag über die Unruhen von Baltimore etwa traf die emotionale Lage der Nation wie kaum ein anderer Film.

„Mein Barbershop ist für mich die beste Quelle fürs Schreiben“, sagt Anthony. Kein Tag vergeht, an dem er von den Kunden nicht zumindest eine gute Geschichte hört, „from sex to politics, from good to bad“.

Welche Überschrift er seiner eigenen Story geben würde? Vielleicht: „A boy who went forth to learn writing.“

AD PERSONAM

Wolfgang Ainetter (hier auf Twitter) war Ressort-Leiter bei der Bild Zeitung, Chefredakteur der Gratis-Zeitung Heute und zuletzt Chefredakteur bei News – als längstdienender Chefredakteur nach dem Gründer. Diesen Sommer über bloggt Ainetter für The Gap über seine Hospitanz bei OZY im Silicon Valley.

WEITERLESEN:br />Erster Teil des Blogs – Die Bewerbung und die Vorgeschichte

Tag 1 in den Ozy Headquarter

Tag 2 Gastauftritt Kurt Kuch

Tag 3 Kein Wlan im Biergarten

Tag 4 Welcome To The Stone Age

Tag 5 Larry Page, Marissa Mayer und der Telefonzellenfabrikant

Tag 6 Anforderungsprofil für Silicon-Valley-Journalisten

Tag 7 Kann man mit Online-Journalismus Geld verdienen, Mister OZY?

Tag 8 Fingernägel, Nasenrotz und andere Erfolgsgeheimnisse

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