Gehen heißt erfahren

Der Walking Artist Hamish Fulton im Interview über die 1968er Jahre, den Auto-Spirit, den Gegensatz von Erfahrung und Internet, und das Gehen als Quelle von Denken und Experimentieren.

Zurück nach Europa: Sie planen ein Projekt in Bad Kleinkirchheim, Kärnten?

Ja, aber ich kenne die Rahmenbedingungen zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht. Es wird geschehen, aber derzeit habe ich keine näheren Informationen darüber.

Haben Ihre Walks Sie verändert? Was sind Ihre persönlichen Erfahrungen, die Sie dabei gemacht haben?

Ja, das haben sie. Entscheidend ist: Wenn Sie ein Bild machen wollen, gehen Sie in ein Atelier oder Studio. Wenn das Bild archiviert und das Gebäude von einem Feuer zerstört wird, ist auch das Bild für immer weg. Wenn Sie einen Walk machen, bleiben Sie nicht nur am Leben, sondern niemand kann Ihnen diese Erfahrung wieder nehmen. Das ist vergleichbar mit Menschen, die in dieser Region leben und am Wochenende in die Berge gehen. Wenn sie alt sind und das jahrelang gemacht haben, prägt das deren Kopf und Körper, Einstellung und Wahrnehmung. Ich kann Frustration erfahren, nicht beim Gehen, es hängt von der Art der Frustration ab. Manchmal entdeckt man, dass eine Karte von der Realität abweicht, das frustriert. Das ist eine Frustration beim Walking. Im Leben, so denke ich zumindest, kann man von etwas angepisst sein. Ich rede nicht darüber. Gehen belohnt und man ist dabei in der Zeit.

Im Hier und Jetzt, einer physischen und mentalen Erfahrung.

Ja, das Gehen ist mehr und mehr im Gegensatz zum Verhalten.

Weil heute alles sehr schnell ist?

Ja, und das Ergebnis dieser Geschwindigkeit. Wenn wir sagen: Wir gehen jetzt zu diesem Berg, steht das im Gegensatz dazu, in einen Bildschirm zu schauen. Aber heute wollen Leute das überhaupt nicht so sehen. Möglich, dass Ältere vor der Internet-Ära das so wahrnehmen. Das Ergebnis vom Bildschirm: Ich gehe da nicht hin, weil es ja den Bildschirm gibt! Mit der Maschine (Seilbahn, Anm.) fahren wir wieder vom Berg runter! Wir vergessen dabei, dass wir zu Fuß hinunter gehen könnten. Wir haben Erfahrungen, ohne Extremsport in den Alpen oder USA zu machen. Für Extremsportler wäre es sicher auch interessant zu sehen, warum jemand das so machen kann! Es ist völlig falsch zu behaupten, dass uns Internet unglücklich macht. Es gibt einfach Menschen, die Sauerstoff brauchen. Künstler, zeitgenössische Kunst in unserer Gesellschaft, ist wie Sauerstoff, weil sie Luft gibt und etwas anderes entgegnet, provoziert oder etwas Verrücktes ins Leben der mächtigen Regierungen und Kontrollen ruft.

Wenn Sie sagen, dass Ihre Walks eine Reaktion sind, haben diese Erfahrungen Sie zum Gehen gebracht? Der Körper hat ein Gedächtnis.

Ja, der Körper erinnert sich, das ist unglaublich!

Gehirn und Körper, von den Füßen zum Gedächtnis!

Ja, ganz und gar. Im Kunstkontext spricht man nie so: Ihre Füße haben ein Gedächtnis oder ein Gehirn! Da geht es immer um: Dieser Maler oder Performance-Künstler …

Oder Land Art-Künstler …

Ja, es geht leider nie um dieses Thema. Das Gehen ist ein Open Space, um denken und experimentieren zu können. Ein Wissenschaftler, ein Biologe oder Physiker könnte diese Erfahrung wissenschaftlich erklären …

Und in Normen oder Abweichungen artikulieren. Techniker oder Technokraten … das Problem könnte hier liegen …

Ja (lacht)!

Sie sagen nicht: So geht das! Sie setzen Zeichen, die man annimmt oder eben nicht?

Ja, es gibt globale Unternehmen, Museen, Künstler mit „mächtig“ Geld, das wird zur Logik und etabliert sich als korrekt! Es ist inopportun zu sagen: „Ich mag die Malereien von Piero della Francesca nicht!“ Das ist unzumutbar und nicht angemessen. Aber selbst, wenn Sie die Malereien nicht mögen, haben Sie Ihre Meinung! Wir haben Gefühle und Meinungen, und eben auch Überzeugungen. Ich mag seine Malereien, verwende dieses Beispiel aber sehr gerne, wenn ich darüber spreche. Auch abstrakte Malerei. Und primitive Kunst ("indigene arts", Anm.), weil dort die Kontrolle der sogenannten „wichtigen Kunst“ nicht gegeben ist. Wissen Sie, in der Downing Street in London, in den Räumlichkeiten des Premierministers, hängen Turners in den Gängen. Und jeder, der dort vorbeihuscht, sieht immer nur Malereien von Turner! (lacht).

Hamish Fulton, geb. 1946, ist Konzeptkünstler, Fotograf, Maler und Bildhauer und nennt sich selbst den „Walking Artist“. Seit 1969 entwickelte er seine „Art Walks“, die ihn u.a. auf den Mount McKinley in Alaska oder den Mount Everest in Tibet führten. In speziell choreografierten „Public Art Walks“ gibt er seine Erfahrungen weiter. Seine Arbeiten versteht er als symbolische Gesten für den Respekt gegenüber der Natur.

Das Gespräch führte Doris Lippitsch, Herausgeberin und Chefredakteurin von Quer – Seiten über urbanes Leben und Architektur

www.quer-magazin.at

Wir bedanken uns für die Zurverfügungstellung des Interviews.

Bild(er) © Luise Wolf, Johannes Puch
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