13 Tage, über 200 Filme – das war die Viennale 2024. In unserer Rückschau bieten wir einen Querschnitt durchs ausgiebige Programm und erklären, nach welchen Filmen man unbedingt Ausschau halten sollte.
Wer jährlich auf das Verkaufsfenster der Viennale hinfiebert dürfte das kennen: lange Schlangen vor den Kassen oder Warten im Onlineshop, bis man endlich dran ist. Dann schnell die Liste an geplanten Karten abarbeiten, in der Hoffnung, für möglichst viele der gewünschten Filme Karten zu bekommen. Alle, die glauben, Journalist*innen hätten es da einfacher, kann ich beruhigen: Statt dieses ganze Procedere einmal vor Beginn durchzuspielen, dürfen wir das während der Viennale täglich machen. Die Ticketkontingente für Akkreditierte werden nämlich immer erst zwei Tage im Voraus freigeschalten. Da heißt es täglich um 10 Uhr zur Stelle zu sein, um noch die letzten Karten für jenen Film zu ergattern, den man »gesehen haben muss«.
Ich will hier allerdings keineswegs auf die Mitleidsdrüse drücken. Mir ist schon klar, dass wir in einer sehr privilegierten Position sind, ein so umfangreiches Filmangebot gratis und mit so wenig Organisationsaufwand ansehen zu können. Es ist eben ein alter Tauschhandel. Um über Kultur berichten zu können, brauchen wir Zugang dazu. Diejenigen, die diese Kultur produzieren, geben uns den Zugang, weil sie wollen, dass wir über ihre Produkte berichten. Das führt zu einem ständigen Balanceakt, damit aus dieser symbiotischen Beziehung nicht Abhängigkeiten und Einflussnahmen entstehen.
Aber genug des Vorgeplänkels und hin zum eigentlichen Kern der Sache: Die letzten zwei Wochen war wieder Viennale! Und wie jedes Jahr war das Angebot so umfangreich wie unüberschaubar. Deshalb berichten wir hier über unsere ganz persönliche Auswahl an Filmen. Die Genres reichen vom abstrakten Essayfilm über tragikomische Animes bis hin zu epischen Weltuntergangsmusicals.
»C’est pas moi« (Regie: Léos Carax)
Frankreich, 2024
Alles beginnt am Anfang und den macht bei der diesjährigen Viennale ein Essayfilm für die Neigungsgruppe Filmwissenschaft. »C’est pas moi« steht ästhetisch ganz in der Tradition von Jean-Luc Godards »Histoire(s) du cinéma« – der übrigens auch ein posthumes Cameo im Film hat. Inhaltlich ist der Fokus jedoch mehr nach innen denn nach außen gerichtet. Statt die gesamte Genealogie des Kinos und dessen Einfluss auf die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen, verwendet Carax seine Vielzahl an (filmischen) Zitaten und Versatzstücken dafür, seine eigene Position in ebendieser zu reflektieren. Am brisantesten wird dies, wenn er eine Verbindungslinie hin zu Roman Polanski zieht. Sie seien beide weiß, männlich, heterosexuell. Filmemacher, die in Frankreich leben. Nur der eine halt ein verurteilter Sexualstraftäter. Wo also trennen sich ihre Linien wieder? Für wen das nun nach einer schwer verdaulichen filmischen Metareflexion klingt, sei entwarnt. Denn erstens ist der Film nur 45 Minuten lang. Und zweitens durchzieht ihn ein augenzwinkernder Humor, den Carax oft in blink-and-you’ll-miss-it-Bildwitzen einstreut. Witze, die sich aber leider in erster Linie wieder nur an die eingangs erwähnte Neigungsgruppe richten.
»The End« (Regie: Joshua Oppenheimer)
Dänemark, Deutschland, Irland, Italien, Vereinigtes Königreich und Schweden, 2024
Oppenheimer ist ein alter Bekannter für die Viennale. Seine bisherigen Langfilme »The Act of Killing« und »The Look of Silence« waren ebenfalls hier zu sehen. Beide beschäftigten sich mit den indonesischen Massenmorden Ende der 60er, bei denen über eine Million angeblicher Kommunist*innen vom damaligen Regime ermordet wurden. Beide Filme waren vornehmlich Dokumentationen, die sich aber durch geschickte Kunstgriffe mindestens so sehr mit den Geschichten, die wir uns über die Realität erzählen, beschäftigt haben, wie mit dieser Realität selbst. In »The End« macht Oppenheimer schließlich vollends den Sprung ins fiktionale und bringt eine Mischung aus dystopischem Kammerspiel und Endzeit-Musical auf die Leinwand. Dabei dreht er die alte Musical-Weisheit – »Gesungen wird, wenn die Emotion zu groß wird für normale Sprache« – um 90 Grad zur Seite. Das Ensemble bricht nämlich dann in Gesang aus, wenn es seine wahren Gefühle durch Lügen, Fantasien oder (Selbst-)Täuschung verbergen will. In satten zweieinhalb Stunden erzählt »The End« so die Geschichte der letzten Überlebenden Menschen in einem Luxusbunker, Jahrzehnte nach dem ökologischen Kollaps. Zeitlich nicht gerade ökonomisch, aber vielleicht notwendig, um die Tristesse der Apokalypse einzufangen.
»In Liebe, Eure Hilde« (Regie: Andreas Dresen)
Deutschland, 2024
Wer glaubt, schon innerlich tot zu sein, unfähig jedweder Gefühlsregung, dem sei der neue Film von Andreas Dresen ans Herz gelegt. Denn da mit trockenen Augen wieder rauszukommen, ist wahrlich kein leichtes Unterfangen. Liv Lisa Fries gibt die Widerstandskämpferin Hilde Coppi, die gleich zu Beginn des Films von der Gestapo verhaftet wird. Der Film macht nämlich den geschickten Kunstgriff, Coppis Geschichte nicht streng chronologisch zu erzählen, sondern kontinuierlich mit Rückblenden zu unterbrechen. So wird dem Gefängnisalltag und dem unentwegten Fortschreiten hin zum unvermeidlichen Ende, die Liebesgeschichte von Hilde und Hans, ihre idealistische Tätigkeit im Widerstand und der Alltag von Menschen, die sich aktiv dem Faschismus widersetzten, entgegengestellt. Bemerkenswert ist dabei, dass Dresen keine Held*innengeschichte schreibt. Stattdessen erzählt er von gewöhnlichen Menschen, die Entscheidungen treffen, in Verachtung eines menschenverachtenden Systems.
»Motel Destino« (Regie: Karim Aïnouz)
Brasilien, Frankreich und Deutschland, 2024
Wenig schadet einem Film so sehr, wie eine falsche Erwartungshaltung. Und wenn man »Mann flüchtet sich in ein Sexhotel und beginnt dort eine Affäre mit der verheirateten Chefin« hört, dann liegt die Hoffnung auf einen Erotikthriller alter Schule nahe. Doch »Motel Destino« schafft es nie wirklich dorthin. Zwar sind die Analogfilmfarben wunderbar übersättigt, die Charaktere durchwegs gut gezeichnet und das Set-up voller Potenzial. Aber weder Erotik noch Thriller möchten sich so richtig einstellen. Dafür mäandert der Film zu viel, lässt den sich anstauenden Druck immer wieder abflauen und kommt erst im letzten Viertel so richtig in Schwung. Zu diesem Zeitpunkt hat man sich aber auch an den schönsten analogen Bildern längst sattgesehen.
»Ghost Cat Anzu« (Regie: Kuno Yoko und Yamashita Nobuhiro)
Japan und Frankreich, 2024
Animationsfilme sind auf der Viennale leider immer rar gesät. Insofern schön, dass es »Ghost Cat Anzu« ins Programm geschafft hat. Das junge Mädchen Karin wird von ihrem nichtsnutzigen Vater in einem Tempel abgeladen, während dieser versucht, seine Schulden zu tilgen. Die dort lebende, anthropomorphe Katze Anzu nimmt sich – etwas widerwillig – dem Wohlergehen der Zurückgelassenen an. Obwohl der Film einige Längen aufweist, der Ton manches Mal abrupt von komisch zu tragisch sowie wieder zurück schwenkt und man Animationen auch schon mal flüssiger sehen durfte, hat »Ghost Cat Anzu« unterm Strich sein Herz am rechten Fleck. Das ist nicht zuletzt dem ausgezeichneten Charakterdesign geschuldet, das nicht nur diverseste Dämon*innen und Geisterwesen in ihrer abstrusen Vielfalt zeigt, sondern – und das ist wahrlich nicht selbstverständlich – auch jeder menschlichen Figur so eindeutige Züge zuteilt, dass sie unverkennbar idiosynkratisch aus der Ensemblemasse hervorsticht.
»Fekete Pont« (Regie: Bálint Szimler)
Ungarn, 2024
Während sich »In Liebe, Eure Hilde« mit dem Widerstand gegen historischen Faschismus auseinandersetzt, handelt »Fekete Pont« vom Widerstand gegen kontemporäre Systeme, die sich zunehmend in diese Richtung bewegen. Allerdings beispielhaft und etwas verklausuliert. Nämlich anhand eines Schülers, der sich nicht so recht an das bestehende System seiner neuen ungarischen Schule anpassen kann, von diesem zunehmend drangsaliert und marginalisiert wird, sowie von der einzigen Lehrerin, die diese Ungerechtigkeit zu stören scheint. Doch auch deren Bemühungen kratzen letztlich nur an der Oberfläche und bieten keine tiefergehende Kritik des Systems an. So ist der Film schlussendlich eine Spur zu zahnlos für eine Allegorie, aber eine Spur zu allegorisch für eine produktive Analyse eines verfahrenen Schulsystems.
Die Viennale 2024 fand vom 17. bis 29. Oktober statt. Weitere Teile unserer Viennale-Rückschau finden sich hier.