Österreich versteht sich als eine bedeutende Kulturnation. Doch wie ist es zu diesem Selbstbild gekommen und was steckt dahinter? Ist dieses Bild in der aktuellen Corona-Krise überhaupt noch aufrecht zu halten? – Eine Spurensuche
Das Bekenntnis zu Österreich als »Kulturnation« hat in der heimischen Politik eine lange Tradition. Es war daher kaum verwunderlich, dass die neue Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer bei ihrer ersten Pressekonferenz diese österreichische Besonderheit mit Nachdruck betonte. Dort hielt sie fest, dass »Österreich sich als Kunst- und Kulturnation versteht, eine solche ist und auch international so wahrgenommen wird«. Den Begriff »Kulturnation« konnte man in letzter Zeit überhaupt recht häufig in Schlagzeilen, Reden und Social Media Posts wahrnehmen. Stoff, sich über das Verhältnis von Kunst, Kultur, Staat und Gesellschaft Gedanken zu machen (oder zu echauffieren) gab es ja genug: der Antritt Mayers, sowie der Rücktritt von Lunacek; die schwerwiegenden Auswirkungen der Corona-Krise auf die Kunstszene, sowie die Kritik an der politischen Reaktion darauf. Gerade diese Debatten zeigen, dass der Begriff »Kulturnation« keineswegs unumstritten ist. Während die einen stolz auf ein Jahrhunderte altes Erbe zurückblicken, verweisen die anderen auf prekäre Arbeitsbedingungen und seit Jahrzehnten stagnierende Förderungen. Was also ist eine Kulturnation überhaupt und trifft diese Bezeichnung für Österreich heute noch zu?
Was ist eine Kulturnation?
Der Ursprung des Begriffs liegt in der Literatur zur Nationenbildung. Der deutsche Historiker Friedrich Meinecke unterschied 1907 in einem einflussreichen Werk zwischen »Staatsnationen« und »Kulturnationen«. Während in einer Staatsnation die politischen Werte und Institutionen die Grundlage des Zusammenlebens bilden, wird in einer Kulturnation diese Aufgabe von der gemeinsamen Kultur übernommen. Ein bereits bestehender Kulturraum, der im Laufe der Geschichte auch zu einer politischen Einheit heranwächst, ist somit eine Kulturnation. Historische Beispiele dafür sind Deutschland und Italien, während Frankreich und die USA als Beispiele einer Staatsnation gelten.
Nach dem Untergang der k. u. k. Monarchie und der Errichtung der Republik, erhält der Begriff eine neue, österreichspezifische Bedeutung. Die Kulturnation ist nun nicht bloß das Gegenstück zur Staatsnation, sondern wird zu einem Herausstellungmerkmal der jungen Republik stilisiert. Bereits in der 1. Republik gab es Bestrebungen, Österreich als ein kulturelles Schwergewicht zu positionieren. So betonte Bundespräsident Wilhelm Miklas in einer Festrede anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Republik, dass ein so kleines Land wie Österreich »auf kulturellem Gebiete, in der großen Welt immer mehr eine ganz besondere Sendung erfüllt«. Es etabliert sich jedoch erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein selbstständiges Österreich-Bewusstsein.
Ein neues (altes) Österreichbild
Das Bild der Kulturnation wird zu einem der Eckpunkte der neu gewonnen Identität der 2. Republik. Das Kulturverständnis, das dieses Bild begleitet, war jedoch ein deutlich konservatives. Der Schwerpunkt lag bei Hochkultur, Habsburger-Mythos und Katholizismus. Dazu kamen eine ausgeprägte Skepsis gegenüber zeitgenössischer Kunst, personelle Kontinuitäten zur NS-Zeit, sowie der Duldung von nationalsozialistischen Begriffen, wie jenem der »entarteten Kunst«. Als vor der Wiedereröffnung des Burgtheaters im Jahr 1955 ein Streit darüber ausbrach, ob das Haus am Ring mit Goethes »Egmont« oder Grillparzers »König Ottokars Glück und Ende« eröffnet werden sollte, intervenierte die Regierung zu Gunsten des letzteren. Das Stück wurde als das »österreichischere« betrachtet und eine ganze Generation an Schulkindern musste die patriotische Passage, beginnend mit »es ist ein gutes Land«, auswendig lernen. Im Allgemeinen blieb die österreichische Kunstszene international bis in die 60er Jahre unbedeutend. Das schwierige Verhältnis der Kulturnation zur Gegenwartskunst wird aktuell in der Ausstellung »The Beginning. Kunst in Österreich 1945 bis 1980« in der Albertina Modern behandelt.
Die Kulturnation wird hinterfragt
Mit dem verstärkten Aufkommen einer Konsumgesellschaft, der weitgehenden Säkularisierung, sowie der zunehmend antiautoritären Einstellung, begann in den sechziger Jahren die konservative Hegemonie zu bröseln. Mit der Bewegung »Wiener Aktionismus« gelang erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein österreichischer Beitrag zum internationalen Kunstgeschehen. Die 1970 beginnende SPÖ-Alleinregierung unter Bruno Kreisky versuchte den Kulturbegriff zu erweitern: weg von repräsentativer Hochkultur, hin zu einem umfassenden Kulturbegriff mit gesellschaftlicher und politischer Komponente. Unter dem Motto »Kunst für alle« wurde der Zugang zu Kulturinstitutionen demokratisiert. KünstlerInnen, die in ihren früheren Schaffensjahren noch auf Ablehnung stießen, fanden nun vermehrt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und erhielten staatliche Auszeichnungen, wie den Großen Österreichischen Staatspreis. Trotz der steigenden Akzeptanz von zeitgenössischer und unkonventioneller Kunst, bleibt der Begriff der Kulturnation dennoch nicht unumstritten. KritikerInnen bemängeln schon vor der Corona-Krise die häufig fehlende fachliche Kompetenz von KulturpolitikerInnen, sowie das Fehlen eines selbstständigen Kunst- und Kulturministeriums. Prekäre Arbeitsbedingungen, sowie schrumpfende Budgets für die Kultur lassen ebenfalls berechtigte Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Kulturnation hochkommen.
Die Corona-Krise: Das Ende der Kulturnation?
Die Corona-Krise hat die bereits existierenden Kritikpunkte und Widersprüche verstärkt. Denn: Während das Kapitel zu Kunst und Kultur im Regierungsprogramm noch mit dem selbstbewussten Satz »Österreich ist eine Kulturnation« beginnt, finden sich nun unzählige Kulturschaffende in ihrer finanziellen Existenz bedroht. Die Kluft zwischen dem Bild der Kulturnation und der gelebten Realität wurde einfach zu groß. Ulrike Lunacek musste erleben, wie ein vor vielen Jahrzehnten konstruiertes Bild endgültig am Boden der Tatsachen zerschellte. Das die Regierungsspitze inklusive des eigentlichen Kulturministers dabei zuschauten, schwächt das Bild der Kulturnation noch mehr. Denn wenn Österreich sich wirklich als Kulturnation versteht, dann sollten VerantwortungsträgerInnen darauf bedacht sein, genau diesen Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu überwinden.
Die Austellung »The Beginning. Art in Austria 1945 to 1980« begibt sich auf die Spuren der anfänglich wenig beachteten Nachkriegskunst in Österreich. Sie ist bis 8. November 2020 in der Albertina Modern zu besichtigen.