Nichts dürfte Cordula Simon weniger leiden können als Scheinidyllen. In dieser Kurzgeschichte lässt die Grazer Autorin eine namenlose Protagonisten in die verfallende Pampa ihrer Kindheit zurückreisen. Zu Tage kommen, zumindest teilweise, unschöne und löchrige Erinnerungen.
Doline
Ich erkenne die Frau am Fahrkartenautomaten vor mir. Dreihundertvierundsechzig Tage im Jahr kennen wir einander nicht. "Gewonnen!" ruft sie, als die Münzen in die Schale des Fahrkartenautomaten rasselten. Vielleicht hat sie sich wirklich nicht verändert. Wo wir aussteigen steht der Dorfgendarm am Bahnsteig. Sie fragt ihn, auf wen er wartet: "Auf Einbrecher." Sie fragt weiter: "Und die sind im Zug?" "Ja", antwortet er, "und da bleibens auch drin, wenns mich sehen." Seine Sprache macht, dass ich schlucke.
Als ich ankomme, kann ich die durchgeschwitzte Wäsche meines Vaters auf dem Balkon sehen, obwohl dort schon lange nichts mehr hängt.
Die Tür ächzt, als ich sie öffne. Weck nicht meine innere Unruhe, zischt es. Als Georg ging, hatte meine Mutter keine Angst mehr, dass die Katzen um jemand anderen buhlen konnten als um sie, nun waren es ihre Katzen, denn von mir, die so passiv dieses Gebäude bewohnte, so unauffällig war ich – erwarteten die Katzen nichts, obwohl sie damals für mich als kuschelige Haustierchen angeschafft worden waren und ich ihnen Namen geben durfte. Meine Mutter erinnerte sich bald nicht mehr an die Namen. Sie müssen noch in einem alten Tagebuch stehen. Eine Einheit der Tiere, wie eine zweigesichtige Katze. Janus. Ein Name reicht. Mutz. Ich ging in die Küche. Auf dem Herd stand ein Topf. Rotweinsuppe. Ich weiß nicht, wer zuletzt hier gewesen war. Hier konnten ausgestorbene Tiere auferstehen.
Das Haus knackte manchmal so laut, dass man davon aufwachen konnte, selbst wenn man nicht schlief. Auch an Bomben ist nicht die Explosion das schlimmste, es ist das Geräusch davor, dieses hohe Surren, wenn sie sich noch im freien Fall befinden, so wie bei Stechmücken aller Art das hohe Summen ihre stärkste Waffe ist – man wünschte sich, sie würden einfach zustechen und man würde sich kratzen, ein bisschen Spucke auf den Stich geben und es wäre vorbei. Spucke. Ursuppe. Wenn man dreizehn ist und lernt, dass beim Küssen die Spucke danach überall um den Mund klebt.
Sie würde bald herüberkommen. Sie würde zur Tür hereinkommen und niesen. Mondstauballergie. Wie erzählen dann. »Das ist keine schöne Geschichte«, werde ich sagen. Und sie wird sagen: "Dann muss ich ein bisschen weinen." Ich weiß nicht, was ich hier will, aber es ist nichts Gutes.
Wir beginnen mit dem Schweigen, mit dem Bombensurren, mit der Mosquitoqual. Jedes mal. Ich schalte den Plattenspieler ein. Wahrsageapparat. Niemand hat je wahrgenommen, dass es in diesem Haus keinen Strom mehr geben sollte. Warum wird er nicht abgestellt. Dreizehn Jahre, denke ich. Keine einzige Stromrechnung. Das Haus ist elektrisch.
Ich öffne ein paar Fenster. Hinge Wäsche draußen, sie röche nach Heu. So wie die Katzen rochen, als wir noch den Stromleitungen folgten, wo immer sie uns hinführten. Der Wein endete nie, wie auch der Strom immer floss.
Wir sind gezwungen, im gleichen Raum zu sein, wir können nicht anders. Erst ist da dieses beschissene Schweigen, und wir unterhalten uns erst, wenn es zu befremdlich ist.
Ich höre die Tür knarren. Ich habe dich vermisst, flüstere ich. Sie kommt in die Küche, lässt sich auf einen Stuhl fallen. Doline. Sagt sie. Ich nicke. Das ist das Ende des Rituals. Sie hat Supermarktkuchen mitgebracht.
Ich kann mich an das elektrische Knistern ihres Kleides erinnern, als er es ihr auszog. Ich sollte still sein. Still spielen. Ich saß gern in Schränken. Die Doline. Ich nicke wieder. Commotio Cordis. Füge ich hinzu. Wir waren gute Kinder. Zumindest bessere, als wir Erwachsene sind.
Sie erzählt von dem blutigen Hemd im dreckigen Waschbecken unter dem verkalkten Wasserhahn. Der Revolver lag daneben. Ein schöner glänzender Gegenstand. Ich nickte. Ein Gegenstand, der nicht in das dreckige kleine Bad mit dem langsam erblindenden Spiegel und zersprungenen Fliesen passen wollte. Das Häuschen auf der anderen Seite des Hofes war wesentlich kleiner als dieses. Und Erika küsste den Mann. Erika. Meine Mutter. Ich habe sie nie Erika genannt. Sie sollte den Mann in den letzten Monaten Papa nennen und Erika umarmte ihn von hinten und sie blickten ernst in den Spiegel, dann drängten sie das Kind aus dem Bad und schlossen die Tür vor seiner Nase. Von drinnen hörte sie noch stöhnen.
"Wie genau erinnern Sie sich an das Hemd?" Das haben die Leute gefragt. Die Leute von der Polizei. Nicht der Dorfgendarm. "Ein Idiot", lachte sie. "Die bleiben im Zug." Sie versuchte ihn nachzumachen. Ich muss kichern. "Wie alt waren wir da? Vier?"
Von all den Dingen dieses Papamannes konnte sie sich ausschließlich daran erinnern. Und daran, wie ihre Mutter sie gebeten hatte, ihn Papa zu nennen. Luise. Luise in der Doline. Die in dem Bad hätte stehen müssen. An alle anderen Papamänner hatte sie mehr Erinnerungen, aber keine war ihr so nahe, so lebendig in ihrem Kopf wie dieser. Ich weiß diese Dinge. "Hat die Katzen je jemand begraben?" fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. Sie werden wohl weggelaufen sein.
Wäre Georg nicht gegangen. Wir denken nicht weiter. Beinahe wäre es liebenswert gewesen, wie sich die Katzen verhielten. Sie hatten sich immer um Georgs Beine geschmiegt, wann immer meine Mutter nicht da war. Georg streichelte sie, aber er kredenzte ihnen nichts. Sie waren wohl grässliche Opportunisten und ebenso grässlich optimistisch. Das musste jeder denken, der sie dabei ertappte, um Georgs Aufmerksamkeit zu buhlen, seine Ellbogen immer wieder mit ihren kleinen pelzigen Köpfchen anzustoßen, bis er sie streichelte. Keine Katze hatte je mit einem Menschen Bruderschaft getrunken. Es war Zeit für die Doline. Ich holte die Zigaretten. Als wir anfingen zu rauchen, versteckten wir uns auf dem Dachboden. Feenstaub auf Kartons. Wir rauchten aus dem Fenster. Keine Staubexplosionen. Die Katzen hatten den Papamann verraten. Die Katzen hatten Luisa in der Doline gefunden. Luisa, die gesprungen war. Commotio cordis. Luisa sprang aus dem hofseitigen Fenster. Luisa hinterließ einen Krater. Luisa. Von der ich mir immer vorstellte, dass sie in einer Hockstellung gelandet, aufgestanden und über unser Dach hinweggeflogen war. Wie eine Superheldin. Bei jedem Treffen sprachen wir darüber, als wären wir älter gewesen, als hätten wir es gesehen, als hätten wir es verstanden. Wir wissen nicht, woher das blutige Hemd kam. Wir wissen nur: Luisa sprang. Und die Ränder des Kraters stürzten ein. Einmal im Jahr wissen wir es immer noch. Dann gibt es Weinsuppe und wir stecken mit den Knien wieder in dem letzten Sommer voll unschuldigem Spaß, alten Pfennigen in Luftballons, grashalmquietschenden Unterhaltungen über den Teich hinweg, asiatischer Musik aus Balkontüren und Betrunkenen, die fröhlich pfeifend nach Hause stapfen. Dort nieste ein Mann, das Geräusch des Feuerzeugs und der Glut, wenn ich meine Zigarette anzünde. Wir nehmen den gleichen Zug zurück in die Stadt. Ich muss weiter zum Flughafen. Ich sehe sie nur noch in dem Bahnhofscafé. »Haben Sie noch einen Wunsch?« fragt sie der Kellner. "Viele." antwortete sie. Als sei nichts gewesen.
Ad Personam
Cordula Simon kommt aus Graz. Allerdings hat die 30-Jährige auch eine offene Liebe zur Ukraine. In Odessa studierte die Autorin u. a. russische Philologie und lebte auch nach erfolgreichen Studienabschluss dort. Nebenbei verfolgt sie, recht erfolgreich übrigens, ihre literarische Karriere. Die ihr nebst Preisen und Stipendien 2013 auch eine Einladung zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt einbrachte. Ihr Schreiben zeichnet vor allem eine klare Sprache aus, die dann aber doch die Kunst der Andeutung pflegt. Daraus ergibt sich Spannung und oft auch staubtrockener Humor. Vor allem in den morbiden und apokalyptischen Settings, in denen Simon oft ihre Geschichten ansiedelt. Im August erscheint mit „Wie man schlafen soll“ (Residenz Verlag) ihr mittlerweile dritter Roman. Darin teilen sich drei Schichtarbeiter ein Bett und begegnen sich erstmals, als die Öl-Raffinierie einer tristen (fiktiven) Stadt dicht macht.