Was gehört im Jahr 2020 zur Allgemeinbildung? Einfache Frage! Man muss wissen, wie man einen Computer einschaltet und wie man Wikipedia schreibt. Das wär’s. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ist doch wahr! Wozu sich überhaupt noch mit Bildung belasten? Wenn wir früher noch gelernt haben, dass man nicht alles wissen muss, sondern nur, wo man etwas nachschlägt, hat sich mittlerweile sogar das erübrigt: Das Wissen dieser Welt steht im Netz auf Knopfdruck parat. Und man hat endlich dringend benötigte Gehirnkapazitäten frei für Videospielen und Flatrate-Saufen.
Das Blöde ist nur: Mit nichts anderem kann man sich so schnell blamieren wie mit unhinterfragtem Halbwissen. Im harmlosesten Fall bekommt man es gar nicht mit, weil sich die anderen Partygäste einfach nur peinlich berührt abwenden, wenn man ihnen von den Opern Johann Sebastian Bachs vorschwärmt. Schaden richtet man an sich selbst an, wenn man beim Vorstellungsgespräch mit einem Zitat der Friedensnobelpreisträgerin Elie Wiesel angeben will. Gefährlich wird es, wenn man nicht weiß, dass man besser nicht von einer Brücke auf darunterliegende Oberleitungen pinkeln sollte.
Nur, was soll jetzt wirklich zur Allgemeinbildung gehören? Darüber zerbrechen sich alle paar Jahre viele gescheite Menschen den Kopf, wenn es darum geht, den Lehrplan für Schulen zusammenzustellen. Und jeder sagt etwas anderes. Vor allem sagt jeder jedes Jahr etwas anderes. Selbstverständlich sollte der Umgang mit Computern heutzutage zur Allgemeinbildung gehören – andererseits verdienen Millionen von Menschen ihren Lebensunterhalt, ohne jemals ein Keyboard berührt zu haben. Versuchen Sie, einen Maurer von einem Computerkurs zu überzeugen und er wird Sie fragen: „Wozu?“
Selbstverständlich würden wir heute immer noch sagen, dass man wissen muss, wer Mozart war. Und dass es gerade für eine Kindergärtnerin peinlich ist, noch nie von ihm gehört zu haben. (Wahre Geschichte.) Andererseits muss man sagen: Ihr Pech. Im Jahr 2020 werden noch um einiges weniger Menschen sagen: „Aber das muss man doch wissen!“
Das Problem bei jeder Diskussion darum, was zu Allgemeinbildung gehört, ist: Sie ist nicht überlebensnotwendig. Na gut, bis auf das mit dem Pinkeln von Brücken. Aber in Wirklichkeit kommt man auch wunderbar durchs Leben, wenn man nicht jederzeit die aktuelle Besetzung der Bundesregierung aufsagen kann. Ja, selbst ohne Lesen und Schreiben kann man sich durchhangeln! In Zukunft vermutlich noch mehr als heute.
Der Nutzwert von Wissen erschließt sich leider oft erst Jahre nach seinem Erwerb. Das ist nur leider gerade Kindern ebenso schwierig zu vermitteln wie die Vorteile mehrmals täglichen Zähneputzens. Auch im Jahr 2020 wird es essentiell sein, Kindern Lust auf Wissen zu machen, sie anzufixen. Denn alles, was man im Kopf hat anstatt im iPhone, ist nicht nur schneller abrufbar, sondern hat auch kaum messbaren Zusatznutzen. Eines fügt sich zum anderen, man lernt Querverbindungen zu ziehen und zu erkennen, man – huch! – denkt. Ein gewisser Grundstock an Faktenwissen ermöglicht manchmal weitreichende Rückschlüsse. Wer in seiner geschätzten Tageszeitung von Pinguinen auf dem Nordpol liest, wird den Rest des Blattes daraufhin vielleicht etwas kritischer betrachten. Wer für „genfreie Tomaten“ unterschreiben soll, darf sich zu Recht für dumm verkauft fühlen.
Zur Allgemeinbildung wird im Jahr 2020 – so wie bereits heute, übrigens – nicht unbedingt gehören, dass man weiß, wo man etwas nachschlägt, sondern vor allem, wie man die Quelle einzuordnen hat. Google führt auf eine Spur, aber wer sich nicht auch ansieht, auf wessen Website er da gelandet ist, sollte die dort gefundene Information nicht verwenden.
Wikipedia ist wunderbar für einen ersten schnellen Verdacht, doch wer immer noch glaubt, dort ausschließlich nachgewiesenes Wissen zu finden, kann auch gleich von Brücken pinkeln. Eine Freundin, die Journalisten ausbildet, verbietet Wiki generell. Und bekommt trotzdem regelmäßig Wiki-Links als Quellenangaben, weil ihre Studenten offensichtlich noch immer nicht kapiert haben, was dessen Schwachstellen sind. Man muss sich also nicht wundern, wenn ein deutscher Politiker in den Medien plötzlich einen zusätzlichen Vornamen bekommt, weil alle auf die selbe – manipulierte – Quelle zugreifen.
Kleine Anekdote: Als in der RTL-Sendung „Wer wird Millionär“ die TV-Zuschauer einmal gefragt wurden, in welcher Stadt sich das Hauptquartier von Interpol befindet, schlugen tausende von ihnen – wo sonst? – bei Wikipedia nach, lasen dort Utrecht und riefen die RTL-Mehrwertnummer an, um 10.000 Euro zu gewinnen. Allerdings hatte jemand den entsprechenden Eintrag manipuliert, sobald Günther Jauch die Frage gestellt hatte. Die richtige Lösung wäre Lyon gewesen. Worauf die RTL-Telefonleitungen zusammenbrachen, weil: Stand ja schließlich so bei Wikipedia!
Der größte gemeinsame Nenner Allgemeinbildung wird im Jahr 2020 weiter geschrumpft sein, vielleicht auch zunehmend entrümpelt. Altgriechisch sowie das Auswendiglernen aller linken Donauzuflüsse sollten ohnehin längst passé sein.
Man wird immer seltener sagen können: „Aber das weiß man doch!“ Das Wissen wird sich immer weiter spezialisieren. Unverzichtbar bleibt, gerade Kindern und Jugendlichen beizubringen, wem sie im Internet was glauben können, und woher sie ihr Wissen beziehen. Unverändert bleibt, dass mehr Wissen, das man im Kopf parat hat, auch mehr Vorteile verschafft.
Der einzige Kandidat, der sich beim deutschen „Wer wird Millionär“ übrigens jemals darüber beschwert hat, dass seine Frage zu schwer war, wusste nicht, wie man „Cappuccino“ richtig schreibt. Dafür hätte es 8000 Euro gegeben.
Sigrid Neudecker lebt als freie Journalistin und Buchautorin in Paris. Sie war im Gründungsteam von ZEIT Wissen.
i>http://www.sigridneudecker.com/
Dieser Text ist Teil der twenty.twenty Blogparade. Der vierte Teil von twenty.twenty findet zum Thema "Allgemeinbildung" am 14.4. im Hub Vienna statt.