Flüchtlinge in einer Pariser Banlieue – aktuellere Themen gibt es wohl kaum. Für „Dämonen und Wunder“ gab es dieses Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes die Goldene Palme.
In seiner Heimat Sri Lanka war Dheepan (gespielt von Jesuthasan Antonythasan) ein Soldat der tamilischen Befreiungsarmee. Die Freiheit, die Dheepan so sehr ersehnte und für die er auch zur Waffe griff, bekam er in seiner Heimat nicht. Stattdessen brachten ihm die andauernden Konflikte Kriegsmüdigkeit, Traumata und den Verlust zahlreicher Angehöriger.
Der Film mit der Flucht aus Sri Lanka. Eine Frau ist auf der Suche nach Eltern, die ihr Kind loswerden wollen. Ihr Name ist Yalini (Kalieaswari Srinivasan). Sie findet schließlich ein 9jähriges Waisenkind. Dheepan hat bereits auf die ihm fremde Yalini gewartet, denn: Beide benötigen das Kind um sich als dreiköpfige Scheinfamilie ausgeben zu können. Sonst bekommen sie nicht die, für die Flucht notwendigen, gefälschten Papiere. Gemeinsam mit dem frisch aufgetriebenen Waisenmädchen Illayaal (Claudine Vinasithamby) machen sich die vermeintlichen Eheleute gen Frankreich auf – und das, ohne sich überhaupt zu kennen.
Vom Bürgerkrieg in den Banlieue-Krieg
Das Ziel: Paris. Genauer: Le Pré-Saint-Gervais. Eine trübe Szenerie. In dieser Pariser Vorortsiedlung wollen die drei Hauptcharaktere ihr neues Leben beginnen. Man kann nur erahnen wie ihr Traum von Europa ausgesehen haben muss – aber in Le Pré-Saint-Gervais wird er sicher nicht verwirklicht. Die grau in grau gehaltenen Fassaden der sozialen Wohnungsbauten erwecken Erinnerungen an das Anschauen der HBO-Serie „The Wire“, die in den Projects von Baltimore spielt. In diese Analogie reiht sich auch perfekt der andauernde Bandenkrieg im Viertel ein – ständig wird geschossen, Gewalt und Korruption sind an der Tagesordnung. Dheepan, gerade vorm Krieg geflüchtet, findet sich hier in neuen Kriegszuständen wieder. Der Dschungel von Sri Lanka wurde eingetauscht in den Citydschungel der Pariser Peripherie.
It’s like a jungle sometimes
Trotz vieler Widrigkeiten bemüht man sich darum, Normalität im neuen Umfeld einkehren zu lassen. Dheepan findet einen Job als Hausmeister, Yalini kümmert sich um einen alten, dementen Herren. Für den Job wurde sie von zwielichtigen Gestalten angeheuert, darunter der Ex-Häftling Brahim, der eine Art moderner Capo im Viertel ist. Dheepan lebt durch die Nichtbeherrschung der Sprache und der Unkenntnis der französischen Kultur, vollends ausgegrenzt vom sozialen Leben. Auch bei seiner „Frau“ Yalini, die sich in dem Film als sehr windige, unsolidarische Person gibt, findet er nicht den nötigen Zuspruch. Als er in einer Szene sagt, er verstehe den Humor der Franzosen nicht, entgegnet Yalini, für die Dheepan offensichtlich romantische Gefühle hegt, ganz kalt, dass er ja noch nie irgendeinen Humor hatte. Yalini spricht immerhin ein klein wenig Französisch. Einzig die als Tochter deklarierte Illayaal erlernt konsequent die Landesprache, weil sie eine Schule besucht.
Dheepans schwierige Integration in die französische Gesellschaft zieht eine Art Entfremdung nach sich. Unser Protagonist ist ein Alien am Exilort Paris – aufgrund der Dauerpräsenz der tamilischen Sprache in Dheepans Alltag fällt es ihm auch schwer, seine in der Heimat erlebten Traumata zu überwinden. Ein Mann aus seiner Militärvergangheit, der überraschend in Paris auftaucht, scheint der Auslöse zu sein, der den tief traumatisierten Dheepan wieder in einen Guerillamodus versetzt. Dheepan ist gewillt sich gegen die Gewalt in seinem Viertel und gegen die Banden um Brahim zu wehren, denn: Sie bedrohen seine „Familie“. Er muss dafür wieder in einen neuen Krieg ziehen, einen Krieg um Freiheit am Exilort.
Audiard
Für „Dämonen und Wunder“ begibt sich Regisseur Jacques Audiard wieder einmal in schwierige soziale Randgebiete. Zentrale Motive aus Audiards Werk tauchen wieder auf: Gewalt, zerrüttete Seelen, der Verlusts, der Versucht eines Neubeginns. Erinnert man sich alleine an seinen Vorgängerfilm aus dem Jahr 2012, „Der Geschmack von Rost und Knochen“, vermag man vieles wiederzuerkennen.
Audiard begibt sich oft in ein gesellschaftlich abgegrenztes Umfeld um Milieustudien zu unternehmen, wie beispielsweise in seinem 2009er Meisterwerk „Ein Prophet“, das den Zuschauer die Mafia-artigen Vereinigungen in einem Gefängnis näherbringt. Audiard ist ein Meister der Milieustudie – wo andere wegschauen, hält er drauf. Dabei bleibt er wertfrei, stets ehrbar gegenüber seinen oft wenigen Protagonisten. In diesen Momenten der extrem nahen Charakterstudie erinnern seine Filme oft an die des belgischen Brüderpaars Dardenne („Rosetta“).
Aus Taxi Drivers Vietnam wird Sri Lanka
Genau wie in seinen letzten Filmen setzt Audiard mit Dheepan wieder einen männlichen Protagonisten ein, der kein akzeptierter Teil der sozialen Gesellschaft ist, der nicht die Kriterien des „Französischseins“ erfüllt. Seine männlichen Hauptcharaktere sind gewissermaßen Anti-Helden in der Tradition eines Travis Bickle, der in Scorseses Meisterwerks „Taxi Driver“ sein Vietnamtrauma nicht zu überwinden vermochte und schließlich Amok lief. Ob es nun der kriminelle Romain Duris in „Der wilde Schlag meines Herzens“ oder der Sträfling und spätere Kingpin Tahar Rahim in „Ein Prophet“ war: Allesamt sind es Männer, die ihr Päckchen an begangenen Sünden zu tragen haben, das sie für die Ewigkeit zu brandmarken scheint. Meist gibt es in keine Erlösung für diese Charaktere, geschweige denn einen Weg zurück in das gewöhnliche Leben.
„Dämonen und Wunder“ endet auf einer ambivalenten Note – der Film, zu Beginn noch ein Flüchtlingsdrama, wird am Ende zum schonungslosen Thriller. Man kann den Film kein Werk in der Tradition eines Dardenneschen Realismus nennen – das wäre nur die halbe Wahrheit. Audiard stilisiert und forciert am Ende, indem der Film überraschenderweise einen Moment der völligen Eskalation liefert.
Der komplett ohne Stars auskommende Film überzeugt dennoch darstellerisch enorm: Die (noch) unbekannten Mimen spielen höchst glaubwürdig. Das liegt wohl auch an der biographischen Nähe zu den gespielten Figuren – der Darsteller von Dheepan zum Beispiel, Jesuthasan Antonythasan, war selbst Freiheitskämpfer in Sri Lanka.
Realiti
Mit „Dämonen und Wunder“ stellt Jacques Audiard wieder unter Beweis dass er ein großartiger Genrefilmer ist. Audiard interessiert sich nicht für die gewöhnlichen, kommerziellen Beweggründe des Filmemachens. Stattdessen perfektionierte er über die Jahre seinen außergewöhnlichen Trademarkstyle. Seine Themen blieben vergleichbar – lediglich das Milieu wechselt von Film zu Film. Der 63jährige taucht tief in selten gezeigte Milieus ein, präsentiert seine Protagonisten zwar realitätsnah, aber stets allgemeingültig. Diesen Ansatz pflegte er auch bei „Dämonen und Wunder“: „Ich wollte die Realität nicht per se abbilden“, sagte der Franzose in der NZZ. Und eben weil er sich beim Geschichtenerzählen nicht von der Realität einschränken lässt, bleiben seine Charaktere universell gültig. Die Flüchtlingsschicksale in „Dämonen und Wunder“ sind vielfältig und folgen dabei keiner Blaupause eines Durchschnittflüchtlings. Es gibt ihn ja schließlich auch nicht, den Durchschnittsflüchtling.
Der Film „Dämonen und Wunder“, der im Original „Dheepan“ heißt, läuft am 11. Dezember 2015 in den österreichischen Kinos an.