Sandra Gugić schickt eine Fotografin auf Herbergs- und Motivsuche. Das löst einiges aus. Eine Kurzgeschichte die zeigt, warum die Wienerin zu den spannendsten neuen Erzählstimmen gehört.
Ein paar Stunden später sperrt er seine Wohnungstür auf, stolpert über ein paar Schuhe und ich hinterher. Er verschwindet in der Küche, während ich mich in der großzügig angelegten Wohnung umsehe. Die Zimmer sind, bis auf ein paar vereinzelte Möbel und Gegenstände, leer, im Flur stehen Umzugskartons. Ich kann nicht erkennen, ob er dabei ist ein- oder auszupacken. Nach kurzem Zögern betrete ich eines der Zimmer, das noch am ehesten bewohnt aussieht, es ist nicht nötig das Licht anzumachen, wir befinden uns im zweiten Stock auf gleicher Höhe mit den gelben Köpfen der Straßenlaternen. In der Mitte des Raumes steht ein Sofa, auf dem Boden, vor einem leeren Regal, liegen ein paar Bücher und Platten verstreut, ich steige darüber hinweg, gehe zum Fenster, öffne beide Flügel, höre den Mann meinen Namen rufen und antworte nicht, lausche seinen Schritten, dem leichten Hall, den sie erzeugen, bis er mich findet. Ich nehme den Drink entgegen, den er mir reicht, bleibe ans Fenster gelehnt stehen, während er sich auf das Sofa fallen lässt. Bleib so, sagt er, richtet das Kameraauge seines Mobiltelefons auf mich, drückt den Auslöser, dann stellt er seinen Drink auf den Boden, um mich zu sich auf das Sofa zu ziehen. Wir nesteln an Knöpfen, zerren an Stoff und Zippverschlüssen, ungeduldig und hektisch, verstreuen endlich unsere Kleider auf dem Boden. Wir reagieren uns schweigend aneinander ab, ich stoße mir das Knie mehrmals hintereinander am Sofa und denke mir, dass ich lachen würde, wenn ich uns zusehen könnte. Kurz bevor es ihm kommt, presst er zwischen seinen Zähnen die Worte: Schau mich an, schau mich an hervor. Das Sofa hat seine Position verändert, ist jetzt leicht zum Fenster und damit mehr ins Licht gedreht, ich löse mich von seinem Körper, taste zuerst auf dem Boden nach seiner Schachtel Zigaretten, die leer ist, und dann nach dem Telefon. Auf dem Display bin ich als Schattenriss im Fenster zu erkennen. Zurück in meiner Wohnung positioniere ich mich vor der Fototapete mit den Birken, nackt, bis auf das Medaillon um meinen Hals, drücke den Auslöser.
Suchend fahre ich die lange Reihe der Namensschilder mit dem Zeigefinger ab, während ein kleiner Junge knapp hinter mir im Sekundentakt einen Fußball gegen die Hausmauer kickt. Als ich mich umdrehe, läuft er weg, ohne seinen Ball mitzunehmen. Über mir streckt sich das Hochhaus wie ein müder Turm in den Himmel. Kurz bevor ich aufgeben will, finde ich endlich den Namen. Sie sind spät dran, sagt der Alte anstelle einer Begrüßung und winkt mich weiter. Er ist ein glatzköpfiger, gedrungener Mann und einen halben Kopf kleiner als ich. Wir quetschen uns zusammen mit meinem Gepäck in einen ungewöhnlich schmalen Lift, er drückt die Vierunddreißig, der Lift fährt mit einem Ruckeln los. Der Alte starrt mich ungeniert an. Ich erinnere mich, ein paar Tage zuvor gelesen zu haben, dass Augenkontakt von mehr als sechs Sekunden Dauer angeblich entweder von dem Verlangen nach Sex oder Mord zeugt, die Vorstellung amüsiert mich, also starre ich zurück, bis er sich irritiert abwendet. Ich sehe ihm zu, wie er einen kleinen roten Fussel von seinem Pullover zupft. Mein Blick wandert weiter über die mit Marker und Kugelschreiber hingekritzelten oder mit spitzen Gegenständen, vielleicht einem Schlüssel, ins Metall gekratzten Botschaften. Ich zähle einen Gleichstand zwischen NEGER RAUS und NAZIS RAUS, zwölf Herzen mit variierenden Initialen und knappen Liebeserklärungen, in ein Herz sind die Worte: IHR UND MIR geritzt. Der Lift kommt mit einem erneuten Rumpeln zum Stehen, über der Tür blinkt die falsche Zahl. Wir sind schon richtig, der Alte geht voraus, streift seine Füße umständlich auf dem Welcome der Fußmatte ab, lässt seinen Schlüsselbund rasseln und sperrt nach mehreren vergeblichen Versuchen die Tür auf. Ich betrete eine Neubauwohnung mit niedrigen Räumen, eine Enge, die vom hellbraunen Muster der Raufasertapete und den golden beschlagenen Türrahmen noch verstärkt wird. Das Wohnzimmer füllen ein Wandverbau aus dunklem Holz sowie ein helles Sofaensemble aus, an der Wand gegenüber ist ein obszön großer Flatscreen angebracht, in dem sich verzerrt der Alte, ich und das Zimmer spiegeln, vor der Tür zum Balkon steht ein beigefarbener Hometrainer.
Vier Wochen, sage ich.
Sie können auch länger bleiben, sagt der Alte.
Kommt ihr Sohn nicht in vier Wochen?
Der hat was Besseres vor.
Schon halb in der Tür dreht er sich noch einmal zu mir um.
Als er gegangen ist, positioniere ich die Kamera probeweise vor der Spiegelung im Flatscreen, der Ausschnitt verschwimmt immer wieder im Blick durch das Objektiv, bis ich in der Enge des Raumes die Geduld verliere. Ich öffne die Schiebetür zum Balkon mit einem Ruck und sehe eine Weile zu, wie träge graue Wolkenformationen über die Stadt gleiten und dunkle Schatten auf die als versetzte Treppen angelegten Balkone werfen. Im Haus gegenüber wird eine Tür geöffnet, eine Frau tritt ins Freie, ihre Haare sind im Nacken zusammengebunden, der Wind zerrt an ihren Kleidern, ein paar Strähnen lösen sich aus dem Knoten und züngeln wie kleine Flammen um ihren Kopf. Das Mobiltelefon in meiner Tasche klingelt, es ist die Nummer des Alten. Als ich wieder hochsehe, ist die Frau verschwunden. Was machen Sie eigentlich hier in der Stadt? Auf dem Balkon unter mir fängt ein Hund an zu bellen.
Ad Personam
Sandra Gugić zählt zu den neuen, starken Erzählstimmen in der heimischen Literatur. Die 38-jährige Wienerin, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien und zusätzlich am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Heuer veröffentlichte sie ihr viel beachtetes Debüt »Astronauten« (C. H. Beck). Ein Stadtroman um sechs Jugendliche in Wien. Gugić präsentiert sich darin als Meisterin der scharfen Beobachtung und leisen Zwischentöne und zeigt, wie mit präziser Sprache Alltag und Innenleben von Figuren seziert werden kann. Wie das aussieht, ist auch in der Kurzgeschichte »Junge Frau, undatiert«, in der sie eine namenlose Fotografin auf Motivjagd schickt und vorm Auslösen kräftig mit dem Zoom spielt, nachzulesen.