Auftakt. Lena Stölzl berichtet von der Berlinale.
Wahrscheinlich ist es jedes Jahr das gleiche. Für mich jedoch ist es das erste Mal – mein Studierenden-Dasein hat sich endlich bezahlt gemacht und ermöglicht mir eine Vollakkreditierung im Moloch aller Filmfestivals – der Berlinale. Viele Unkenrufe dringen vorab ins Ohr und säuseln wenig Romantisches – vom vielen Trubel, vom überbordenden Programm, vom vielen Schlangestehen. Doch ich winke ab. Schließlich bin ich bereits festivalerprobt und habe meine eigenen (zugegeben mehr romantischen) Vorstellungen: Man existiert rund ums Kino, am Weg von hier nach da, dazwischen kurze Opferungsrituale an Santa Coffeina, Coffee-to-go oder Schwarztee in Thermoskannen, flüchtige Bekanntschaften, vielleicht ein Happen Festnahrung, je nach Zeitbudget. Am Ende des Tages auf Umwegen (in bierum imus nocte) nach Hause, in den Heimathafen eines Nickerchens, die Nächte sind kurz, weil es im Kino dunkel ist (sic!). Also Sachen gepackt und – Schuss! Schuss! – geht’s auf in den hohen Norden.
Im Akkreditierten-Reich ankommend erfahre ich als erstes, was die Spatzen auch in Wien von den Dächern pfeiffen: ich werde mich anstellen müssen und zwar jeden Tag ab frühmorgens für Tickets des Folgetages. Derart instruiert mache ich mich daran, aus dem Berlinale-Journal schlau zu werden, um mein Programm zu extrahieren und komme dabei unweigerlich zu dem Schluss, dass die verschiedenen Teile wohl von verschiedenen Abteilungen ohne gegenseitiges Einverständnis erstellt worden sind (es ist das Programm, das Verrückte macht). Vielleicht bin ich auch nur Viennale-verwöhnt oder blind oder unausgeschlafen oder alles. Jedenfalls entwickle ich eine Methode, die den Umständen gerecht wird. Die Wettbewerbsfilme sind für mich nicht überzeugend, weshalb ich mich vor allem auf Panorama und Forum konzentriere. Als ich zwei Stunden später endlich eine fertige Zeittabelle vorweisen kann, bekomme ich für den ersten Film am darauffolgenden Tag keine Karte mehr, es bleiben aber immer noch 16 Filme in 8 Tagen und einige Workshops im Talent Campus übrig.
Rahmenprogramm
Also vorerst kein Kino, was mir den Wind nicht aus den Segeln nimmt, sondern mich schnurstracks in die Ausstellung Exhibition II im Gutschow-Haus führt, wo in einem verdunkelten Keller der israelisch-palästinensische Grenzkonflikt multimedial von mehreren Kunstschaffenden thematisiert wird. Das in eine Audio- und eine Video-Installation (räumlich) getrennte "Road Movie" (Elle Flanders, Tamira Sawatzky) und der Fotoband des Palästinensers Yazan Khalili "On Love and Other Landscapes" (ein großformatiges, wunderschönes Etwas, das in keinster Weise am Tisch befestigt ist) bestechen mit einer Klarheit des Ausdrucks, die der zunehmenden Verschärfung des Konflikts entspricht. Es scheint, als starre die Aufgeladenheit dieses so schwierig einzugrenzenden Gebiets förmlich aus den Bildern heraus, so als würde sie unseren Blick richten oder als wollte sie uns anklagen. Gerade die Zweischneidigkeit der Problematik – dass eine Grenze wie eine Münze immer zwei Seiten hat – wird zum Brennpunkt der Installation, während in den Fotografien des Bandes die Mauer selbst zum Kader wird, weil sie das Einzige ist, das nicht gezeigt wird, aber doch alles worum es geht.
Am Samstag spätabends dann endlich der erste Film: in der Panorama-Publikumspreis-Sektion läuft Jeffrey Schwarz‘ HBO-Doku "Vito" über den Gay-Rights-Aktivisten und Kinodetektiven Vito Russo, das ganze im Cinestar in den Grundfesten des Sony Center, wo jeder Kinosaal ein eigenes Multiplex ist: eine Leinwand so groß wie ein Kinderspielplatz, neuester Sitzcomfort und innovativste Technik – und erfreulicher Weise auch eine beinah voll besetzte Audienz, die sich eine Geschichtswissen auffrischende Lektion in Sachen Aktivismus zu Gemüte führen will. Immerhin ist so ziemlich alles, wofür sich die Pionier*innen dazumals einsetzten mittlerweile zumindest in großen Teilen der sogenannten westlichen Welt allgemein akzeptiert und allein der Gedanke, dass dies nicht so sein könnte, lässt schon kalte Schauer über den Rücken laufen. Filmisch wird hier nach den üblichen Doku-Paramtern (Interview, Archiv-Material, Interview, Archiv-Material etc.) operiert, doch das Bild, das von dieser Persönlichkeit gezeichnet wird, ist schlichtweg faszinierend und lässt mich sogar über den darüber gestreuten Tränendrüsen-Kitsch hinwegsehen.
Ich werde wohl einiges dazulernen in den nächsten zehn Tagen. Vielleicht bin ich nachher aber genau so dumm wie vorher. Beim Anblick von mit Autogrammheft zitternden Kreaturen hinter einem roten Teppich säumenden Zaun, beruhigt mich das Gefühl, dass es immer noch schlimmer kommen kann und hege Vorfreude, mich in der kommenden Zeit auf das Wesentliche – die Leinwand – konzentrieren zu können, sofern ich natürlich Karten bekomme, was sich weiterhin problematisch darstellt. Dies wird mir spätestens beim zweiten Anlauf klar: sonntags, pünktlich halb neun mit Vollgas in den Hintern einer sich um das Gebäude in der Eichhornstraße schlängelnden Riesenanaconda, die mir prompt die Hoffnung abwürgt, gerade nur eine halbe Stunde nach Öffnung der Ticketschleusen einen der 551 Sitze im Kino International für die Monday Late-Night-Vorstellung des neuen Guy-Maddin-Streifens "Keyhole" zu ergattern, zugegeben eines der Herzstücke meines liebevoll zusammen gestellten Programms.
Montagspläne
Auch die beiden anderen Montagspläne ("This ain’t California", eine Doku über Skateboardfahrer in der DDR und "Angriff auf die Demokratie", der neue Karmakar) vaporisieren sich in Glitzerstaub und die Erkenntnis, dass ich mich – anstatt um sieben Uhr nach der Clubnacht noch gemütlich frühstücken zu gehen – wohl gleich eine Stunde davor schon unter die in der Kälte campierenden Freaks begeben hätte sollen, um mit ihnen den ruhmreichen Kopf der Anaconda zu bilden. Nach diesem epischen Fehlschlag beschließe ich, meine Strategie grundlegend zu ändern, also am nächsten Tag vielleicht ein wenig früher dort zu sein (in etwa auf Höhe des letzten Halswirbels der Anaconda) und in weiterer Folge in den Kinos Restplätze zu erstehen oder notgedrungen auch zu erbetteln. Im Übrigen sieht so real gelebter Festival-Sozialismus aus: in der Schlange spreche ich mit einer syrischen Regisseurin, die obwohl geladene Gästin, doch genauso anstehen muss wie alle anderen und auch keine zweite Karte für die Vorstellungen bekommt, das könnte man fast frech finden, eigentlich. Weil auch hier – wie bei jedem Sozialismus – die Frage in den Mittelpunkt rückt, wer in diesem Vergleich wohl die Nomenklatura darstellt?
Kurzer Nachtrag zur Clubnacht: Efdemin im about:blank war zwar gut, aber ziemlich gesteckt voll (so wie alle Clubs am Samstag) und nach meinem Geschmack manchmal ein klein wenig zu funky-happy und weniger dem Motto get deep (techno, techno!) entsprechend, aber ich hab ja noch Zeit und es gibt immer noch die Dienstagswelle im M.I.K.Z., den Donnerstag im Suicide Circus und das Wochenende im Sisyphos, sowie zusätzlich jeden anderen Tag in jedem anderen Club, potentiell zumindest, denn wir wissen: es ist eine Stadt des Möglichkeitssinns (Musil) und die Realität ist unwahrscheinlich (Esposito).